Delphine de Vigan im Interview: "Kindern wird vermittelt: Für Glück braucht es Konsum" | Buch | BR KulturBühne | BR.de

2022-09-10 13:13:12 By : Ms. Cindy Wang

Die französische Autorin Delphine de Vigan hat einen Roman über eine besondere Art von Ausbeutung geschrieben, die in einer ganz eigenen Social Media-Blase stattfindet. "Die Kinder sind Könige", halb Krimi, halb Gesellschaftskritik, erzählt von Kinder-Influencern. Dabei hält de Vigan selbst Abstand zu sozialen Netzwerken.

Judith Heitkamp: Sie haben ein Buch über Kinder-Influencer geschrieben. Sind Sie selbst viel in den Sozialen Medien unterwegs?

Delphine de Vigan: Tatsächlich, bin ich da ziemlich distanziert. Ich habe dieses Phänomen anhand einer Reportage entdeckt, über Kinder, die in einem Einkaufszentrum Autogramme gaben und unglaublich berühmt waren. Dann habe ich recherchiert und herausgefunden, dass das ein ganzes Wirtschaftssystem ist … und dann war die Idee zum Roman da.

Viele Journalistinnen und Journalisten, mit denen Sie Interviews über das Buch geführt haben, mussten auch erstmal googeln. Das ist eine Welt für sich, diese Kinder-Kanäle. Wie funktionieren sie, was tun diese Kinder?

Sie werden berühmt über Youtube-Videos mit enormen Aufrufzahlen, die teils mehrere Millionen Klicks haben. Die Eltern verdienen viel Geld damit, dass ihre Kinder uns zeigen, was sie so tun, was sie mögen, was sie konsumieren. Und sie konsumieren vor allem das, was sie von ihren Geschäftspartnern bekommen. Sie machen Werbung, ohne es richtig zu wollen und zu wissen.

Über welche Summen sprechen wir da?

Über mehrere Millionen Euro. Der reichste Youtuber der Welt ist ein kleiner amerikanischer Junge, Ryan, der jetzt um die neun Jahre alt sein muss, der auf der Forbes-Liste der höchsten Einkommen an erster Stelle war, und da ging es um 30 Millionen Dollar im Jahr.

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Ryan's Fire vs Ice SuperPowers Challenge!

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Unglaublich, allerdings, und offenbar haben viele Leute dieses Phänomen auch erst über meinen Roman entdeckt … Was mich darüber hinaus interessiert hat, war die Rückseite – wie lebt eine Familie, bei der sich alles um diese Videos dreht? Was bedeutet das für die Kinder? Was bedeutet diese Berühmtheit? Die vielen Stunden, die in den Drehs stecken?

Auf den ersten Blick scheint es ja harmlos. Kleine Spiele, süße Kinder, perfekte Familien …

Ja, wenn man von weitem guckt: keine Pornographie, keine Gewalt. Aber wenn Sie ein Video nach dem anderen gucken, wird die ständige Wiederholung ziemlich haarsträubend, weil einem bewusst wird, was diese Clips immer wieder erzählen: Für Glück braucht es Konsum. Das ist es, was den vielen Kindern, die zuschauen, vermittelt wird. Das hat mich sehr beschäftigt, neben dem Leben der Influencer-Kinder selbst. Am Ende ist die Botschaft: Um glücklich zu sein, muss man besitzen.

Frankreich hat als erstes Land ein Gesetz dazu gemacht. Ist das notwendig?

Dieses Gesetz hat allein schon das Verdienst, Debatten entzündet zu haben im Parlament, in der Presse. Das Gesetz soll die Kinder schützen und die Eltern verpflichten, ihre Aktivitäten anzugeben, die tägliche Arbeitszeit zu limitieren, auch einen Teil des Gewinns auf Verwahrkonten für ihre Kinder zu legen – all diese Regeln gab es vorher nicht. Man erinnert daran, dass das alles nicht zu löschen ist – ich denke an den Fall einer Mutter, die eine Art Reportage über das Aufwachsen ihres Sohnes machte und auch eine über sein erstes großes Geschäft auf dem Töpfchen … da kann man sich ja vorstellen, dass es problematisch werden könnte, wenn der Junge mal 15 oder 16 Jahre alt ist, aber dieser Clip ist nicht löschbar, er wurde unendlich oft abgerufen.

Ist das der Grund, den Roman – der gleichzeitig auch ein Thriller ist – über 30 Jahre zu erzählen? Die Kinderstars werden groß.

Im Zentrum des Romans steht das Verschwinden eines kleinen Internet-Stars, einer Kinder-Influencerin. Aber dann wollte ich auch wissen, wie das Schicksal dieser Kinder ist, wenn sie erwachsen geworden sind. In Frankreich gibt es Kinder, die ihr ganzes Leben, seit sie zwei Jahre alt sind, solchen Videos gewidmet haben und die extrem bekannt sind, bei teils 20 bis 25 Millionen Klicks pro Video – welche Erwachsenen werden sie sein?

Man wird es erst in einigen Jahren wissen, oder in Ihrem Buch lesen … Es geht in "Die Kinder sind Könige" noch um ein anderes für Sie zentrales Thema, jenseits der gesellschaftlichen Aktualität, und das ist die Inszenierung der Realität, die "wahre Geschichte", die Autofiktion. Sie haben sich häufig und mit verschiedenen Konzepten mit dem Problem der gemachten Wirklichkeit befasst – warum ist es Ihnen so wichtig?

Es stimmt, um diese Fragen drehe ich mich schon seit langem, um diese feine, manchmal etwas poröse Grenze zwischen dem Realen und der Fiktion. Vor 20 Jahren hielt Reality-TV Einzug – das natürlich nicht viel mit der Realität zu tun hat – und heute, mit Smartphone, Computer und Social Media, kann einfach jeder sein eigenes Reality-TV aufziehen. Diese Kinder-Influencer-Kanäle sind Reality-TV, es fasziniert mich. Ich weiß gar nicht genau, warum, aber es stimmt: Dieses Thema taucht immer wieder auf in meinen Romanen.

Den Podcast zum Gespräch mit der Autorin und die Lesung des Romans mit Katja Bürkle finden Sie hier.

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