Fortsetzungsroman – Lesen Sie die neue Folge von «Anna Seilerin» | Berner Zeitung

2021-12-29 21:13:30 By : Ms. Adela Liu

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Therese Bichsel schreibt über Anna Seiler, welche die Berner Krankenpflege verändert hat. Die Autorin zeichnet ein beklemmendes Bild des Spätmittelalters.

Die Folgen 1 bis 29 des Romans finden Sie an dieser Stelle: «Anna Seilerin» Folge 1 – 29

Sie geht an Heinrichs Seite durch die Marktgasse, fragt ihn nach der Auswahl der Kranken, nach den Finanzen.

«Der Spitalmeister entscheidet, wer aufgenommen wird. Manchmal weist uns auch Priester Baselwind Leute zu. Man gibt sein Geld ab beim Eintritt ins Spital. Wenn man wieder gesund wird, kostet die Pflege nichts, man erhält das Geld zurück. Das Geld jener, die sterben, fällt ans Spital. Wir erhalten zudem viele Spenden und Stiftungen. Darum können wir auch Arme aufnehmen, die kein Geld haben. Wenn ein Bader oder ein Wundarzt gerufen wird, bezahlen wir ihn. Oft genügt die Pflege der Schwestern. Das Spital ist ein Werk für die Armen. Die Wohlhabenden spenden, und das wird ihnen im Himmel entgolten.»

Anna sinnt über seine Worte und die Ordnung des Lebens nach. Es gibt arme und reiche Leute. Viele sind nicht schuld an ihrer Armut – sie werden in die Armut geboren oder verlieren alles durch unglückliche Umstände. Bei den Bettelmönchen ist die Armut eine freie Wahl. Gott hat das Leben so geordnet, dass die Reichen für die Armen spenden. Wenn es genug Spitäler gibt, können die Armen auch bei Krankheit ein würdiges Leben führen. Selbst für die Aussätzigen gibt es eine Art Spital, hat sie vorhin gehört. Das Siechenhaus befindet sich ausserhalb der Mauern, um die Leute der Stadt nicht zu gefährden.

Sie ist immer noch in Gedanken, als sie über die Kreuzgasse gehen, die sich hier zum Platz weitet. Einen Blick nur wirft sie in die Kreuzgasse – und sieht eine Gestalt aus dem Haus treten, die ihr bekannt vorkommt. Ein Mönch ist es, ein grossgewachsener Franziskanermönch in braunem Habit, gebogene, lange Nase – Conrad! Schon lange hat sie ihn nicht mehr gesehen, er schien wie von den Klostermauern verschluckt. Was hat ihn ins Haus ihres Vaters gebracht? Es gibt dort keine Tochter mehr, die er unterrichtet. Als Mönch erteilt er einen solchen Unterricht auch nicht – sicher nicht an ein Mädchen, eine junge Frau. Ist er in seelsorgerlichen Belangen gekommen? Warum?

Sie weist Heinrich auf Conrad hin, beschleunigt den Schritt, tritt vor ihn hin. «Conrad, sei gegrüsst! Wohin des Wegs – hast du meinen Vater besucht?»

Conrad schaut von ihr zu Heinrich Seiler, er scheint von der Heirat zu wissen, begrüsst beide. «Dein Vater hat mich geschickt, um seiner Schwester geistlichen Beistand zu leisten.

Priester Baselwind hat nicht immer Zeit, nach allen Leuten seiner Gemeinde zu sehen. Hemma kannte mich von unseren Stunden, sie hat nach mir gefragt.» Anna versteht nicht. «Warum braucht Hemma geistlichen Beistand – sie besucht doch fast jeden Tag die Messe?»

«Sie konnte den Gottesdienst schon einen Monat nicht mehr besuchen. Sie ist krank, liegt im Bett.» «Ich … ich …wusste nichts davon. Das kann nicht sein! Der Vater hat mich nicht von Tante Hemmas Krankheit unterrichtet!»

«Hemma selbst wollte nicht, dass man dich damit behelligt.»

«Ich will zu ihr.» Anna ist aufgelöst, wieder schiessen ihr ­Tränen in die Augen. «Heinrich, bitte lass mich Hemma besuchen.» Heinrich willigt ein, er verabschiedet sich, da er noch Geschäfte zu erledigen hat.

Sie bittet Conrad, gemeinsam zur Kranken zu gehen – Hemma brauche Unterstützung, jemanden an ihrer Seite. Aber auch sie selbst braucht Unterstützung, merkt sie. Hemma schwer krank – das kann nicht sein. Hemma war immer da, wird immer da sein – etwas anderes kann sich Anna nicht vorstellen.

«Ich war längere Zeit bei ihr. Nun warten meine Aufgaben im Konvent, ich muss gehen.»

Erst jetzt nimmt sie sein Äusseres richtig wahr. Conrad – ein Mönch in der braunen Kutte der Franziskaner – trägt eine Tonsur, sein Haar ist zu einem Kranz geschoren, die kahle Stelle bedeckt. Er schaut sie nicht an, weil ein Mönch einer jungen Frau nicht nahe kommt. Conrad ist dem Kloster verpflichtet und nicht ihr. «Stina, die neue Magd, die dein Vater angestellt hat, ist bei ihr.» Er nickt aufmunternd, bevor er sich umdreht und geht.

Einen Moment ist sie wie ­erstarrt. Dann öffnet sie die Haustür und geht die Treppe ­hinauf. Alles sieht gleich aus – die Treppe, die Stube, die Küche. Aber Hemma steht nicht hinter den Töpfen, wie es Anna gewöhnt ist. Sie findet sie in der Kammer, die sie bis vor zwei Jahren geteilt haben. Hemma liegt im Bett, bewegungslos, nur ihre Augen wandern flink zur Besucherin, durch ihre Finger gleitet das Paternoster. Ist da nicht ein Funken Freude?

«Anna – du? Ich bat deinen Vater, dich nicht zu benachrichtigen. Du bist verheiratet und hast jetzt andere Aufgaben, als Zeit am Bett deiner Tante zu verbringen.»

Sie kniet an Hemmas Bett nieder, schickt die junge Magd, die Hemma Mus eingegeben hat, in die Küche. «Du bist zu eigenwillig, Tante», tadelt sie. «Ich bin verheiratet, ja, aber ich lebe noch immer in Bern, nur etwas weiter oben in der Stadt. Ich muss wissen, wenn du krank bist. Was ist mit dir?» Noch nie hat die Tante tagsüber im Bett gelegen.

«Das kommt schon wieder. Im Bett bin ich erst seit ein paar ­Tagen. Vorher bin ich nicht so faul herumgelegen, habe immer noch deinem Vater das Essen zubereitet. Ich hatte aber nicht mehr die Kraft, auf den Markt zu gehen. So weit ist es mit mir ­gekommen – Stina besorgt die Einkäufe nach meinen Anweisungen. Am leiblichen Wohl hat es nicht gefehlt, der Haushalt deines Vaters ist gut besorgt, heute ist er für Geschäfte in Thun. Das Geistige hat mir gefehlt ohne die Messen in der Leutkirche. Auch ohne dich bin ich immer hingegangen in den letzten eineinhalb Jahren. Ich bin froh, dass Conrad da war, ich spreche gern mit deinem ehemaligen Lehrer, er war ein kluger junger Mann und ist jetzt ein ­belesener, kluger Mönch, der für alles eine Antwort hat.»

Meist kommt sie frühzeitig, um das Stundengebet der Predigerbrüder im Chor mitzuhören. Durch das Fenster mit den Ornamenten in der Wand hinter dem Marienaltar ­erhascht sie einen Blick auf die weissen Gewänder der Brüder.

Jetzt sind ihre Stimmen verklungen. Der Prediger erscheint am Marienaltar. Sie bleibt knien, vergisst den kalten Boden unter ihren Knien und alles um sich herum. Sie ist ganz Auge und Ohr, nimmt alles in sich auf, den Wechsel von Gesängen und Gebeten, den Weihrauch, dann die Worte. Der Prediger spricht von der Fastenzeit als Busszeit, von der Vorbereitung auf die Feier von Tod und Auferstehung Christi. Es folgen weitere Gebete und Gesang. Der Prediger segnet die Gemeinde, bevor er das Kirchenschiff durch die Tür verlässt, die ins Kloster führt.

Die Gläubigen gehen mit gesenktem Kopf aus der Kirche, Ruhe kehrt ein. Ruhe spürt sie auch in sich selbst. Sie steht auf, lässt noch einmal ihren Blick durch die Kirche schweifen.

Der Weihrauch hat sich verflüchtigt, die Schatten in der Kirche sind länger geworden. Im Chor mit seinen hohen Fenstern, die sie über der Schranke des Lettners sehen kann, ist es noch heller.

Aus dem Kirchenschiff tritt sie in die andere Welt hinaus, in der das Licht jetzt stetig schwindet. Noch immer sind Bettler da, einige haben sich im Schatten der Mauer zur Ruhe gelegt. Gut möglich, dass die Brüder ihnen in dieser Winternacht einen Platz innerhalb des Klosters zuweisen, immer wieder nehmen sie Arme und Bedürftige für die Nacht auf.

«Das Reich Jesu ist nicht von dieser Welt», hat der Prediger vorhin gesagt. Die Bettlerorden tun alles, um die Not auf dieser Welt zu lindern. Sie bereiten die Gläubigen auf die nächste Welt vor, in der alles besser sein wird. Man schickt sich in sein Leben in dieser Welt und bereitet sich vor auf das ewige Leben, das dem Menschen verheissen ist. Das gilt auch für sie, die sechzehnjährige Anna ab Berg, die vor kurzem zu Anna Seilerin geworden ist und manchmal nicht mehr weiss, wer sie ist und wo sie hingehört.

Sie zieht den Umhang enger um die Schultern, überquert die Gasse, sieht Licht in der Stube in Heinrichs Haus. Einen Augenblick bleibt sie stehen, schaut in dieses Licht. Bald wird sie mit Heinrich am Tisch sitzen, Grit wird ihnen den Fisch auftischen und Schüsseln mit Mus und Kohl. Man ist hungrig an einem Fastentag, wenn man gegen Abend die einzige Mahlzeit des Tages einnimmt. Trotzdem isst niemand mit Hast.

Wenn Grit die Schüsseln hingestellt hat, wird sich die Magd zu ihnen an den Tisch setzen. Heinrich will es so, damit sie alles im Haushalt zu dritt besprechen können. Oft hört sie selbst nur zu. Heinrich und Grit haben dieses Haus lange allein geführt. Sie mischt sich in viele Dinge nicht ein, sagt ihre Meinung nur, wenn sie sich sicher fühlt.

Eine Gestalt nähert sich im Halbdunkeln. Es ist Grit, sie trägt schwer an zwei vollen Wassereimern. Das Haus vor den Predigern hat keinen eigenen Sodbrunnen wie jenes an der Kreuzgasse. Trinkwasser holt man beim Ziehbrunnen der Prediger oder im Graben, der Len- und der Stettbrunnen sind weiter entfernt. Anna nimmt Grit einen Eimer ab – hintereinander steigen sie die Treppe hoch in die erleuchtete Stube.

Anna zieht die Decke unters Kinn und lauscht gespannt. Das Talglicht brennt noch. Es ist die Zeit, wenn er kommt und sich ins Bett legt – manchmal in seiner Kammer, manchmal bei ihr. Er hat die Kammer zum Hof im ersten Geschoss vor der Heirat mit einer Holzwand unterteilen lassen in seinen und ihren Teil. Der Knecht schläft ebenerdig in der Werkstatt neben dem Vorratsraum, Grit im Dachraum über der ­Stube, auf der Seite der Predigerkirche. Ihre beiden Kammern liegen zum Hof neben der Küche.

Wenn Heinrich auf Reisen ist, lässt sie die Tür zur Kammer einen Spalt offen, es strömt dann etwas warme Luft von der Glut im Herd und letzte Wärme vom Kachelofen herein.

Der Ofen mit den blauweissen Kacheln ist eine neue Erfindung, die Heinrich auf seinen Reisen kennengelernt hat und bei sich einbauen liess. Grit kann den Ofen vom Gang aus beheizen, in der Stube strahlt er wohlige ­Wärme aus.

Sie ist aufgeregt. Vorhin, als sie mit Heinrich und Grit in der Stube die Mahlzeit einnahm, kündigte Heinrich ein wichtiges Treffen an, das in zwei Tagen in ihrem Haus stattfinden soll. Er will das Gut Seeholz am Thunersee kaufen, das den Herren von Strättligen in Spiez gehört.

Vom Vater wusste sie, dass hinter jedem Kauf Überlegungen stehen. Sie wagte zu fragen: «Warum kaufst du gerade dieses Gut am Thunersee?»

Heinrich musterte sie überrascht und zog eine Augenbraue hoch. «Junker Heinrich von Strättligen will mit dem Verkauf Schulden abzahlen. Ich werde das Gut bei Gelegenheit weiterverkaufen.» Er ass weiter vom Fisch, nickte Grit anerkennend zu, legte dann seinen Löffel nieder. «Viele noble Herren sind am Donnerstag anwesend. Ich erwarte als Zeugen Freiherren und zwei Kaufleute – Werner Cauwersi und deinen Vater Peter ab Berg. Gar der Schultheiss wird kommen: Johann von Bubenberg wird mit seinem Siegel die Rechtmässigkeit des Handels bezeugen.»

Er schaute von ihr zu Grit und wieder zu ihr. «Diese noblen Herren sollt ihr trotz Fastenzeit würdig verköstigen. Ich werde dir, Anna, Geld dafür aushändigen. Es soll an nichts fehlen – der Handel ist es mir wert.» Er wischte sich mit der Hand über den Mund, erhob sich und verliess das Haus.

Sie weiss nicht, wo er abends hingeht. Auch bei ihrem Vater wusste sie es nie. Sucht er ein Wirtshaus auf? Jetzt in der Fastenzeit sind viele Schenken geschlossen. Die Wege der Männer sind anders als jene der Frauen – unberechenbar, nicht einsichtig.

Mit Grit hat sie sich zur Gästemahlzeit beratschlagt. Der Einkauf morgen wird viel grösser sein als der heutige, sie werden zwei oder mehr grosse Körbe mit Einkäufen füllen. Alles muss ­vorbereitet werden. Noch ist sie keine geübte Hausfrau. Grit wird die Mahlzeit zubereiten. Wenn sie nur Hemma an ihrer Seite hätte…

Sie vernimmt Heinrichs Schritte. Geht er an ihrer Kammer vorbei? Dann hört sie jeweils bald sein Schnarchen durch die dünne Wand. Die Schritte halten inne. Das Talglicht flattert, er kommt herein, knöpft den Gürtel auf, legt Rock und Beinlinge ab, sein Schatten zieht über die Wand.

Er tritt an ihr Bett, schlägt die Decke zurück und legt sich neben sie. Seine Hände drücken ihre Brüste, seine Zunge dringt in ihren Mund – etwas, woran sie sich noch immer nicht gewöhnt hat. Die Schwere seines Körpers, als er sich auf sie legt, ist ihr dagegen vertraut, sie hat nichts dagegen, wenn er sie ganz zudeckt, sie mag seinen Bart, der ihre Wange kitzelt. Er keucht, immer schneller stösst er in sie. Und dann ist es vorbei, einen Moment spürt sie noch sein Gewicht, bevor er sich zur Seite wälzt. Er streicht über ihr offenes Haar, wickelt es um seine Finger, lacht, schaut ihr ins Gesicht.

Sie wagt nicht, ihn anzusehen, sieht an ihm vorbei, noch immer schämt sie sich, wenn sie daran denkt, was manchmal im Halbdunkel der Kammer geschieht und eben geschehen ist.

Nie hätte sie gedacht, dass sich die Körper von Mann und Frau auf diese Weise verbinden, niemand hatte ihr davon erzählt, auch Hemma nicht. Hemma kann es gar nicht wissen, weil sie keinen Mann hat. Es geht schnell vorbei. So auch jetzt. Er löst ihre Haarsträhne von seinen Fingern, setzt sich an den Bettrand. Als sich sein Atem beruhigt hat, steht er auf, nimmt Kleider und Schuhe in die Hand.

Annas Stimme ertönt plötzlich im Halbdunkel : «Darf mir Hemma am Tag der Verschreibung bei der Bewirtung der Gäste helfen?» Überrascht hält er inne. «Das mag angehen.» Unter der Tür fügt er an: «Du wirst bei der Bewirtung übermorgen das rote Kleid tragen.» Die Tür schliesst sich hinter ihm.

Anna hört seine Schritte in der Kammer nebenan, hört, wie das Bett unter ihm ächzt, als er sich fallen lässt, und dann setzen tiefe Atemzüge ein, die bald in Schnarchen übergehen.

Sie bläst das Talglicht aus. Bei ihr dauert es länger, bis sie den Schlaf findet. Sie starrt in die Dunkelheit und lässt Bilder an sich vorbeiziehen: das Flechten der Haare am Morgen, der Flügelschlag der Taube, der Einkauf auf dem Markt mit Grit, die Pfaffendirne am Pranger, die Inselschwestern, die Bettler und Pilger, der Gottesdienst in der Predigerkirche, die Mahlzeit mit Heinrich und Grit.

Die Bilder sind in vielen Farben gemalt. Dann aber schwinden die Farben, alles wird schwarzweiss wie die Gewänder der Mönche, und dann gibt es auch das Schwarzweiss nicht mehr, sondern nur noch grau, grau ist die Nacht in ihrer Kammer, nicht schwarz, man sieht Schatten an der Wand, fühlt einiges, spürt einiges, es verschwimmt aber, die Nacht ist grau, und in diesem Grau versinkt sie allmählich.

Anna steht neben Heinrich und empfängt mit ihm die Gäste. Grit öffnet unten die Tür, während der Knecht sich um Pferde und Wagen kümmert. Hemma hantiert mit Pfannen und Schüsseln und Platten – so vertraut ist das Klappern in der Küche. Der Vater hat sich nach Annas Befinden erkundigt und Heinrichs Kachelofen bestaunt – etwas, das es an der Kreuzgasse noch nicht gibt. Anerkennend hat er Heinrich auf die Schulter geschlagen.

Bald darauf sind der Verkäufer Heinrich von Strättligen und dessen Vater Johann eingetroffen. Junker Heinrich von Strättligen ist aus Spiez angeritten, seine Kleidung riecht nach Pferd. Johann ist ein älterer Herr, wie auch Philipp von Kien, den ihr Heinrich als früheren Schultheissen von Thun vorstellt, jetzt Mitglied im Kleinen Rat von Bern, wie die meisten der anwesenden Herren. Johann von Bubenberg wird von allen mit Ehrfurcht begrüsst, er trägt den hohen Hut des Berner Schultheissen.

Zwei weitere Strättligen-Herren aus Spiez kommen die Treppe herauf, beide sind Vettern des Verkäufers: Der eine in der bodenlangen Kleidung eines Geistlichen ist Kirchherr von Spiez, der andere mit adrettem Federbarett ist Herr von Laubegg.

Den nachfolgenden Herrn in blauem Rock und gelben Beinlingen stellt ihr Heinrich als Kaufmann Werner Cauwersi vor. Der fremdländisch aussehende Mann verbeugt sich tief: «Dieses wunderbare rote Kleid – was für eine entzückende junge Frau Ihr habt!» Heinrich schaut überrascht von Anna zu Cauwersi, betritt dann mit dem Kaufmann die fast volle Stube.

Sie zieht sich in den Hintergrund zurück. Die zwei Herren, die jetzt erst eintreffen, schenken ihr keine Beachtung.

Der eine wirft einen Blick in die Stube: «Dieser Kachelofen, die Fenster mit Glas – was für ein Geldsack unser Gastgeber Heinrich doch ist! Und jetzt kauft er noch das Gut Seeholz von den Strättligen.»

«Die müssen verkaufen – sie haben Schulden bei ihm. Und wohl auch bei Cauwersi, diesem noch viel grösseren Geldsack! Der verlangt Zinsen nah am Wucher, das hat er wohl von den Juden gelernt! Geh mal zu dem in die Bude – die Gulden liegen dort in Haufen herum, der Schein des Goldes ist so stark, dass er keine Laterne braucht, sagt man. Die gelben Beinlinge passen dazu.»

«Peter ab Berg ist auch da – wie immer ist er gefragt als Zeuge. Auch er ist ein erfolgreicher Geldsack. Oder müsste man besser Pfeffersack sagen? Neben dem Leder handelt er ja mit Pfeffer.» Die Männer kichern.

Heinrich hat die beiden Herren erblickt und bittet sie herein, er stellt sie als Niklaus Mösching und Ulrich Oeyer vor, zwei weitere Zeugen des Geschäfts. Der Ratsschreiber stürmt atemlos die Treppe herauf mit einer Pergamentrolle, Feder und Tintenfass unter dem Arm, er hat sich verspätet und bittet um Nachsehen, was ihm die Herren, die ihn oft genug auf Trab halten, gerne gewähren. Alle setzen sich um den Tisch. Heinrich bedeutet Anna, die Tür zu schliessen – die Bewirtung ist erst vorgesehen, wenn das Geschäft unter Dach und Fach ist.

Die Küche ist voller Rauch, das Huhn bereits fertig gegart. Hemma steht am dampfenden Kessel, ihr Gesicht unter der weissen Haube ist gerötet. Sie hat die Fische ausgelegt, schuppt den letzten ab, schneidet ihn auf, nimmt ihn aus und legt ihn mit den anderen in den würzigen Sud. Grit ist heraufgekommen, schaut anerkennend zu, wischt die Schuppen weg und schüttet das Schmutzwasser in den Hof. «Ich hole Wasser beim Predigerbrunnen», sagt sie und zieht mit zwei Eimern ab.

Anna ist froh, einen Moment mit Hemma allein zu sein. Bisher hat sie kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Die Tante putzt Gemüse, Anna hilft ihr. «Wenn Grit zurück ist, soll sie die einfachen Arbeiten übernehmen. Sie ist gewohnt, hier den Haushalt zu führen.»

«Ach so», sagt Hemma und fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Ihr Gesicht ist auf einmal bleich, Anna sieht Schweiss auf ihrer Stirn.

«Was ist mit dir?», fragt sie erschrocken und schiebt ihr das Dreibein hin.

«Nichts.» Hemma setzt sich. «Nur fühle ich mich in der letzten Zeit manchmal plötzlich schwach. Ich werde alt.»

«Du darfst nicht alt werden, ich brauche dich!» Hemma lacht. «Du brauchst mich nicht mehr. Du bist Heinrich Seilers Frau. Es geht dir gut – dieses Haus ist noch besser ausgestattet als jenes deines Vaters.» Ihr Blick gleitet über Annas Gestalt. «Bist du etwa in anderen Umständen – brauchst du mich deshalb?»

Anna errötet. «Nein, vor einer Woche habe ich geblutet.»

«Auch wenn du ein Kind erwartet hättest, wäre ich dir nicht von Nutzen gewesen», sagt Hemma. «Dieses Haus ist mir üblicherweise untersagt. Als alte Jungfer weiss ich zudem nichts vom Kindbett. Deiner Mutter konnte ich nicht helfen.»

«Der Herrgott wollte sie zu sich nehmen. Das ist nicht deine Schuld, Hemma. Auch meine nicht, hast du mir immer gesagt.»

«Das ist richtig.» Hemma erhebt sich. Seite an Seite füllen sie die gekauften Leckerbissen in kleine Schalen: Rosinen und Mandeln, Feigen und Datteln.

Die Schwere ist von ihnen abgefallen, es ist alles wie früher. Sie plaudern über dieses und jenes, lachen zusammen, necken sich. Anna wird erst jetzt bewusst, wie sehr sie ihre HemmaMutter – so nennt sie die Tante manchmal für sich – vermisst hat.

Die beiden achten nicht auf Grit, die mit vollen Wassereimern die Küche betritt. «Ich musste anstehen – so viele wollten Wasser schöpfen bei den Predigern.» Sie schaut Hemma und Anna von der Seite an. «Ihr ähnelt euch sehr, seht aus wie Mutter und Tochter.»

Hemma runzelt die Stirn, die Leichtigkeit fällt von ihr ab. «Wir sind Tante und Nichte – nicht mehr, nicht weniger.» Sie hebt den Deckel über den Fischen, probiert, würzt nach.

Die Männerstimmen in der Stube werden lauter. «Ich glaube, der Abschluss des Geschäftes naht», meint Hemma.

Dampf aus den Töpfen wabert um die Frauen, sie horchen angestrengt. Anna hält das mit Wasser gefüllte Aquamanile bereit und betritt sofort die Stube, als Heinrich ruft. «Da», sagt er, «meine Frau bringt Tranksame. Weil Fastenzeit ist, stossen wir mit Wasser an.»

Die Männer mustern das Aquamanile mit dem Tierkörper und Männerkopf, mehr aber noch die junge Frau im eng anliegenden, roten Kleid, die ihre Becher füllt. Es ist ungewohnt, dass Heinrich auf einmal eine junge Frau an seiner Seite hat. Grit stellt die Schalen mit Leckerbissen auf den Tisch. Die Männer heben die Becher. «Auf Gut Seeholz!», sagt Annas Vater Peter ab Berg. «Auf unseren Gastgeber und seine Ehefrau! Alles in diesem Haus ist kostbar!», wirft Cauwersi in die Runde.

«Dieses Geschäft ist für mich kostbar, und so soll auch die Bewirtung sein.» Heinrich weist auf das Pergament mit den drei frischen, roten Siegeln, das der Schreiber gerade zusammenrollt. «Heinrich und Johannes von Strättligen und unser Schultheiss Johann von Bubenberg haben den Handel mit ihrem Siegel bezeugt, die übrigen Anwesenden sind unsere Zeugen. Ich danke Euch.»

Sie stossen an, die Stimmung steigt, nur die Gesichter des Verkäufers Heinrich von Strättligen und seines Vaters sind ernst. Die vier Herren von Strättligen brechen mit dem Hinweis auf die lange Rückreise nach Spiez noch vor der Hauptmahlzeit auf. Schultheiss Johann von Bubenberg erhebt sich ebenfalls, weil die Geschäfte rufen, der Schreiber schliesst sich ihm an. Die anderen Herren bleiben.

Als die Platten mit Huhn, Fisch, Reis und Gemüse auf dem Tisch stehen, befiehlt Heinrich, nun doch Wein auszuschenken. «Unser Kleriker, der Kirchherr aus Spiez, ist fort. Ein Becher Wein darf wohl sein.»

Bei dem einen Becher bleibt es nicht. Anna fällt auf, dass sich nur der ältere Ratsherr Philipp von Kien zurückhält. Ihr Vater, Heinrich, Werner Cauwersi und die Herren Moesching und Oeyer halten im Gelage mit. Noch und noch muss sie aus dem Krug Wein nachschenken, und wenn sie das tut und Heinrich nicht hinschaut, beugen sich die beiden Herren, die über die Kaufleute schimpften, nah zu ihr. Als sie zum Nachfüllen des Krugs die Stube verlässt, holt sie ein Tuch in der Kammer und bedeckt ihren Ausschnitt. «Oh, wie schade», flüstert Moesching, als sie ihm nachschenkt. Anna weist Grit an, die Herren Moesching und Oeyer zu bedienen. Vor der Magd haben sie noch weniger Respekt, der angetrunkene Oeyer nestelt an ihrer Schürze.

Heinrich wird es zu bunt. Er erhebt sich, dankt noch einmal allen und hebt die Runde auf. Ihr Vater verabschiedet sich rasch. Freiherr von Kien bedankt sich bei Anna, Werner Cauwersi küsst ihr die Hand. Die Herren Moesching und Oeyer katzbuckeln vor Heinrich und schieben sich wortlos an ihr vorbei. Auf der Treppe tuscheln sie, noch einmal fällt das Wort Geldsäcke.

Ihr seid vielleicht keine Geldsäcke, setzt euch aber noch so gern an ihre Tische, denkt sie. Nie würde sie diesen Gedanken aussprechen.

Sie will sich bei Hemma bedanken, findet in der Küche aber nur Grit. «Eure Tante ist schon fort», sagt diese. Enttäuscht trocknet Anna mit einem Tuch die Schalen und Platten, die Grit reinigt und spült.

Heinrich betritt die Küche, sein Gesicht glänzt von Schweiss. «Das war ein erfolgreicher Nachmittag – ihr habt dazu beigetragen.» Er lässt eine Münze in Grits Schürzentasche gleiten. Dann tritt er hinter Anna. Er legt etwas Kühles um ihren Hals, sie bedankt sich, geht rasch in die Kammer. Der kleine Spiegel zeigt eine Kette mit roten, in Gold ­gefassten Steinen, die das Rot des Kleides aufnehmen.

Ein durchdringendes Geräusch zerreisst ihren Traum, Anna schreckt auf: Der Hahn hat gekräht. Es ist Zeit aufzustehen.

Im blauen Licht der Dämmerung kleidet sie sich an. Mit dem Nachtgeschirr in der Hand geht sie in den Hof, leert das Geschirr in den Ehgraben, der zwischen ihrem und dem Nachbargrundstück fliesst. Sie spürt das feuchte Gras an ihren Knöcheln unter dem bodenlangen Kleid, als sie durch den Hof zurückgeht. Der Hahn schwellt seine Brust und kräht noch einmal, die Hühner ruckeln mit dem Kopf und scharen sich um ihn.

Grit ist bereits in der Küche am Werken. Anna hört, wie sie die Glut zusammenkratzt und hineinbläst, dann rumpeln die Kochtöpfe. Sie geht an der Küche vorbei in ihre Kammer.

Anna mag es, in der Morgenfrühe noch eine Weile für sich zu sein. Sie setzt sich auf das Dreibein, teilt die Haare mit dem Kamm und beginnt zu flechten. Schritte sind zu hören – Heinrich geht an der Kammer vorbei. Sie flicht schneller, wickelt die Zöpfe um ihren Kopf, steckt sie fest.

In der Stube trifft sie Heinrich an, er ist über sein Rechnungsbuch gebeugt. Er erwidert ihren Morgengruss, schreibt weiter in sein Buch. Sie tritt hinter ihn, schaut über seine Schulter. Unwillkürlich beginnt sie zu buchstabieren und Zahlen zu entziffern: «90 Pfund für die Schafherde, 50  Pfund für das Leder, je 30  Pfund an Peter ab Berg und Stefan Gutweri für das Geschäft mit…» Sie hat die Worte und ­Zahlen leise gesprochen.

Heinrich dreht sich um und starrt sie an. «Du kannst lesen?»

«Vater liess mir Stunden geben durch Conrad – Bruder ­Conrad, der jetzt bei den Franziskanern ist.»

«Ach, dieser Peter ab Berg. Lässt seine Tochter in unnützen Dingen unterrichten. Wollte er dich ins Kloster geben?» Heinrich wendet sich wieder dem Rechnungsbuch zu. «Zahlen lesen – das mag ja noch angehen für eine Frau, die den Haushalt führt. Alles andere ist unnütz.»

Sie wagt nicht, Fragen zu den Geschäften und Zahlen zu stellen, die sie entziffert hat. Sie nimmt das Aquamanile, füllt aus dem Kessel frisches Trinkwasser ein und giesst ihm einen Becher voll.

Grit bringt eine Schüssel mit Mus und zwei Löffel herein, Heinrich und Anna sitzen sich gegenüber. Sie schaut ihn an. Er scheint nicht verstimmt wegen ihrer Lesekünste, die sie ihm bis jetzt verborgen hat. Breit sitzt er da, über sein Essen gebeugt, ein stattlicher Mann. Ihr Mann. Heinrich ist ihr nicht mehr fremd, sie staunt nicht mehr ­darüber, dass sie verheiratet ist und einen Mann hat. Sie darf an seinem Leben teilnehmen, hat sich an ihn gewöhnt. Er achtet sie, obwohl er viel älter ist und viel mehr weiss. Er ist ihr vertraut in seinen Gewohnheiten, seinem Wesen, seiner Art.

In der vergangenen Nacht stützte sie sich im Bett auf und fuhr mit den Fingern durch sein Barthaar, als er sich zu ihr gelegt hatte. Er war überrascht, liess es sich aber gefallen, strich ihr ebenfalls übers Haar, das wie ein Vorhang vor ihr Gesicht fiel. Sie wird rot, als sie daran denkt, was sie im Bett gemacht haben. Gern würde sie wieder ihr Haar übers Gesicht fallen lassen, damit er die Röte nicht sieht. Sie tun nichts im Bett, was nicht üblich ist bei Eheleuten. Ohne dieses Geschehen gibt es keine Kinder, weiss sie jetzt. Sie hat es aufgeschnappt von den Knechten und Mägden in der Gasse, die mit derben Worten darüber sprachen. Man muss sich nicht schämen.

Schämen muss sie sich eher, weil noch immer kein Kind in ihr wächst. Manchmal weist sie ihn ab, weil sie blutet. Eine Frau ist in diesen Tagen unrein, hat sie gelernt. Sein Gesicht verschliesst sich, wenn sie es mitteilt. Ist er enttäuscht, weil er sich nicht zu ihr legen kann? Oder ist es vielmehr die Enttäuschung, dass sie noch immer blutet und ohne Kind ist?

Manchmal gibt es Flecken vom Blut. Einmal hat Grit sie überrascht, als sie einen Blutfleck auf dem Unterkleid mit warmem Wasser auswaschen wollte. «Kein warmes Wasser!» Grit hat ihr das Kleid aus der Hand genommen, kaltes Wasser in den Eimer gefüllt, vom kostbaren Salz hineingegeben und das Kleid eingelegt. «So gehen die Flecken weg.» Sie hat Anna gemustert. «Das Blut wird kommen, bis Ihr ein Kind erwartet.»

Jetzt hofft sie immer, dass das Blut nicht kommt. Bis jetzt hat sie aber jeden Monat dieses Ziehen im Leib verspürt, welches das Blut ankündet.

Sie ist sich sicher, dass Heinrich auf ein Kind hofft. Dafür nimmt man sich eine Frau. Im Bett mustert er ihren Körper, fährt mit der Hand über ihren Bauch. Vielleicht prüft er, ob sich eine Rundung abzeichnet? Ihr ist nicht klar, was sie noch tun kann. Sie gibt sich ihrem Mann hin. Sie schleicht oft in die Predigerkirche, wirft sich auf die Knie vor dem Marienaltar, berührt mit ihrer Stirn den Boden. Sie betet zur Jungfrau Maria, bittet die Gottesmutter, die das Jesuskind geboren hat, um ein Kind. Bis jetzt wurde sie nicht erhört. Sie wird weiter demütig darum bitten. Gebete zur Gottesmutter, Almosen spenden, Gutes tun. Mehr ist nicht möglich. Gott hat es in der Hand.

Heinrich hat das Mus ausgelöffelt, greift nach dem Becher, blickt sie mit seinen klaren blauen Augen an. «Du kannst mich heute Morgen ins Niedere Spital begleiten. Sie kennen dort die Frau des Spitalvogts noch nicht.»

«Gern.» Sie freut sich, das Spital zu besuchen. Bis jetzt hat immer Grit ihn begleitet – sie nimmt meist Speisen aus der Küche mit. Spitalvogt ist ein wichtiges Amt, es wird durch den Rat der Stadt Bern vergeben. Heinrich war ein paar Jahre Spitalmeister, jetzt wurde er zum Vogt ernannt, er hat die Aufsicht über das Spital.

Er steht auf, gürtet das Schwert um und nickt ihr zu. Sie bindet die Haube, folgt ihm die Treppe hinunter, und er zieht sogleich los. Bis jetzt ist sie kaum je mit ihrem Mann durch die Stadt gegangen. Heinrich ist grossgewachsen und breiter als ihr Vater, er macht noch grössere Schritte. Den Badergraben überqueren sie auf der kleinen Brücke der Prediger und zweigen ab in die Hormansgasse. Es klopft und hämmert in den Werkstätten, Wagen rattern durch die Gasse, Vieh brüllt in der Nähe. Dann ein Wohlklang: Einer bläst die Schalmei, er tanzt in einer Art Narrengewand auf der Gasse herum. Heinrich schüttelt den Kopf, wirft dem närrischen Burschen aber eine Münze in den Hut, die dieser mit einer übertriebenen Verbeugung verdankt. Rasch nähern sie sich dem unteren Ende der Gasse und stehen dort, wo Hormans- und Marktgasse zusammentreffen, vor dem Niederen Spital, das über den Stadtgraben gebaut ist.

«Komm!», sagt er und führt sie am Niederen Spital vorbei und um den Nydegghügel herum. Beim inneren Untertor grüsst er die Wächter und dann zwei Ritter, die ihnen über die Brücke entgegentraben. Über der Aare bleibt er stehen.

Das grüne Wasser fliesst ruhig dahin. Beim Tränketor, beobachtet Anna, werden Schafe verladen. Heinrich weist auf das Ländtetor, wo etliche Kähne vertäut sind. «Dort lasse ich meine Waren verladen. Bald ist es so weit – meine Handelsreise wird mich nach Strassburg führen.»

Sie hat nichts gewusst von dieser Reise. Er dreht sich um und schaut wieder flussabwärts. Sein Ausdruck zeigt ihr, dass er sich freut, sich bald auf dem Fluss in die Ferne tragen zu lassen. Sie denkt an die Reise nach Zurzach – fast zwei Jahre ist es her. Der Vater und sie hatten sich ebenfalls beim Ländtetor eingeschifft. «Ich war einmal mit Vater am Jahrmarkt in Zurzach.»

«Ich weiss – meine junge Frau ist weit gereist. Aus Zurzach stammt das rote Seidenkleid, hat mir dein Vater verraten. Ein wunderbares Kleid.» Heinrich mustert sie lächelnd. «Jetzt besuchen wir das Niedere Spital. Es tut gut, frische Luft zu schöpfen, bevor man den Krankensaal betritt.»

Sie blinzelt in die Sonne, nimmt noch einmal das Grün des Flusses und das Blau des Himmels in sich auf, bevor sie ihm folgt.

Auf dem Weg zum Spital kommen sie an zwei Menschen vorbei, wie sie sie noch nie gesehen hat. Das Gesicht des Mannes ist von Knoten entstellt, rote und bräunliche Flecken überziehen seine Waden. Die Frau hat dieselben Flecken auf den Armen und statt Finger nur Stummel.

Heinrich nimmt Abstand, stellt die beiden zur Rede: «Wer hat euch am Stadttor eingelassen? Ihr könnt nicht ins Niedere Spital. Aussätzige kommen ins Siechenhaus, das ausserhalb der Stadtmauern liegt.» Der Mann will entgegenhalten, sein knotiges Gesicht verzieht sich: «Aber …»

«Kein Aber», schreit Heinrich. «Aussätzige gehören nicht hierher. Ich bin der Vogt dieses Spitals. Ihr würdet unsere Kranken anstecken – vielleicht ganz Bern. Verlasst die Stadt sofort.» Er ruft den Torwächtern zu, und diese kommen heran mit ihren Lanzen, treiben das aussätzige Paar vor sich her und über die Untertorbrücke hinaus aus der Stadt.

Heinrich schüttelt den Kopf. «Das fehlt uns noch – Leute mit der Lazarus-Krankheit in unserem Spital.»

Anna kann das Bild nicht wegwischen, das Bild vom Mann und der Frau mit der Lazarus-Krankheit, wie sie über die Brücke humpeln und von den Wächtern weggetrieben werden.

Die Luft im Saal ist abgestanden. Der Blick auf die Kranken bereitet ihr keine Mühe. Sie liegen in Reihen im Saal, auf der einen Seite die Männer, auf der anderen die Frauen. Fast alle Betten sind doppelt belegt. Eine Schwester in weissem Gewand mit weissem Schleier hat ihnen geöffnet und führt den Herrn Spitalvogt und seine Frau herum. Es ist die Vorsteherin, sie erteilt den andern Schwestern Anweisungen.

Die Kranken sehen ordentlich aus, liegen wie üblich nackt in ihren Betten, zugedeckt, sie tragen eine Nachthaube. Einige wirken abgezehrt, was aber wohl durch ihre Krankheit bedingt ist. Die Schwestern löffeln ihnen Mus ein, reichen Becher mit Wasser, waschen und versorgen sie. Es ist ruhig im Saal. Da – plötzlich ein Schrei, ein lang gezogenes Heulen.

«Eine junge Gebärende», erklärt die Vorsteherin, «sie stand heute Morgen vor unserer Tür, das Kind wird bald da sein. Die Hebamme ist bei ihr.»

Röte schiesst in Annas Gesicht. Der Schrei, das Heulen. Würde auch sie von Schmerz getrieben sein bei der Geburt eines Kindes? Sie möchte nicht, dass jemand ihre Schreie hört. Eine arme Frau ist froh, in einem öffentlichen Spital zu gebären und nicht auf einer Kellertreppe unter dem Spott der Umstehenden.

«Wir nehmen Bedürftige auf, soweit wir Platz haben», erklärt Heinrich. «Dazu gehören immer wieder Kindbetterinnen, die auf der Strasse leben. Manchmal handelt es sich um leichte Mädchen, es gibt aber auch Frauen, die ohne Verschulden in Not geraten. Es ist nicht an uns, zu richten, das Niedere Spital ist ein Ort der Barmherzigkeit.»

«So ist es», bestätigt die Vorsteherin. «Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.» Sie bekreuzigt sich.

Heinrich nickt. «Die Schwestern sorgen sich auch um das geistliche Wohl der Kranken, sie beten mit ihnen, singen manchmal gemeinsam ein Lied. Priester Baselwind von der Leutkirche hält Andachten und verabreicht die Letzte Ölung. Die Schwestern sind Beginen von der Junkerngasse, sie sind ihm und dem Deutschordenshaus unterstellt.»

«Unsere jüngste Schwester wird Euch zu den Betten der Kranken führen», sagt die Vorsteherin zu Anna. «Ich werde dem Herrn Spitalmeister unser Buch vorlegen, damit er Einnahmen und Ausgaben prüfen und Eintragungen vornehmen kann.» Sie winkt einer kleinen Schwester, die flink herbeikommt. «Schwester Elsa hat sich uns eben erst angeschlossen, weiss aber schon gut Bescheid.»

Schwester Elsa beäugt Anna kurz und führt sie den Betten der Frauen entlang. «Das ist Peretta – sie hat ein Frauenleiden. Neben ihr liegt Elisabeth, bei ihr sind die schwarze und gelbe Galle nicht im Gleichgewicht.» Die Frau nickt Anna zu, sie hat ein gelbliches Gesicht. «Die Schuhmachersfrau Ita hier hat eine offene Wunde, die wir versorgen. Ihre Bettnachbarin Ursula wurde von Nachbarn bei uns eingeliefert.» Die Frau hat blaue Flecken im Gesicht und auf den Armen. Ist es ihr Mann, der sie schlägt?

Elsa stellt weitere Frauen vor, erzählt von deren Leiden. Im letzten Bett liegt nur eine Frau, sie hat ein Neugeborenes neben sich, dessen Körper wie üblich in ein Tuch eingeschlagen und mit Bändern umwunden ist. «Das ist Christina mit ihrem Neugeborenen. Alle Frauen können bei uns bleiben, bis es ihnen besser geht», schliesst Elsa.

Anna setzt sich ans Bett der Wöchnerin. Bevor sie etwas sagen kann, ächzt, stöhnt, schreit die Gebärende noch einmal, dann hört man ein Kind weinen. Christina lächelt, drückt ihr Kind an sich. Dann streckt sie es Anna entgegen, die es an sich nimmt. Es fühlt sich so natürlich an, so gut, dieses winzige Kind in ihrem Arm, dass ihr plötzlich Tränen übers Gesicht laufen.

Die Wöchnerin erschrickt: «Stimmt etwas nicht mit meinem Kind?»

«Alles ist gut, es ist ein wunderbares Kind», sie wischt sich die Tränen ab. In diesem Moment tritt Heinrich in den Krankensaal, er erblickt Anna mit dem Kind auf dem Arm und bleibt wie angewurzelt stehen. Sie gibt das Kind zurück, geht zu Heinrich. «Ich muss an die frische Luft», sagt sie. Er nickt verständnisvoll. Sie verabschieden sich von den Schwestern und Kranken. Als sie nach draussen treten, scheint es Anna, dass das Tor zu einer anderen Welt aufgeht – einer Welt des Lärms mit dem schrillen Ton eines Horns, Hufgeklapper, dem Wiehern eines Pferdes, dem Hämmern eines Schmieds. Es ist ihr zu laut. Wie gut, dass es das gibt: die sorgfältige Pflege der Kranken durch die Schwestern, ihr Herumhuschen, die Ruhe im Saal.

Therese Bichsel schreibt über Anna Seiler, welche die Berner Krankenpflege verändert hat. Die Autorin zeichnet ein beklemmendes Bild des Spätmittelalters.

Therese Bichsel schreibt über Anna Seiler, welche die Berner Krankenpflege verändert hat. Die Autorin zeichnet ein beklemmendes Bild des Spätmittelalters.