Traditionelles Biikebrennen auf Sylt: Fackeln im Sturm - Hamburger Abendblatt

2022-09-17 11:33:52 By : Ms. Tina Li

Zahlreiche Besucher bei einem Biikefeuer.

Puppen, Funken, Grünkohl-Koma: Am Freitag wird auf Sylt die fünfte Jahreszeit gefeiert, das traditionelle Biikebrennen.

Die Friesen. Am Freitag sind sie Feuer und Flamme. Da werden sie Fackeln entzünden, durch die Nacht marschieren, die bösen Geister des Winters vertreiben, in fast ausgestorbener Sprache singen und einen großen Haufen Holz abbrennen, an dessen Spitze ein Fass oder eine Puppe thront. Klingt ungewöhnlich, aber das Biikebrennen, das jedes Jahr am 21. Februar stattfindet, erfreut sich immer größerer Beliebtheit.

Plötzlich ist die Insel trotz des ungemütlichen Wetters voll; gerade in diesem Jahr werden viele Besucher erwartet, weil der Termin so günstig auf einem Freitag liegt. „Früher standen nur wir Insulaner um die Feuer herum, jetzt sieht man mehr fremde Gesichter. Traditionen scheinen im Trend zu liegen“, sagt Wolfgang Kloth, Gemeindewehrführer der Gemeinde Sylt. Er kümmert sich seit 1986 darum, dass weder Mensch noch Heide oder Schilf während des Abends Feuer fangen.

Die Funken fliegen auf einer Insel, wohin sie wollen, erklärt der Feuerwehrmann, aber wirklich gefährdet seien eigentlich nur diejenigen, die sich aufgrund des Schnapses zu nah an die Flammen wagen oder über die Glut stolpern. Oder noch besser: sich neben dem Feuer schlafen legen. Kloth hat alles gesehen, alles erlebt, es müsste schon ein Vulkanausbruch her, damit dem 51-Jährigen wirklich heiß würde.

Über den Orkan „Sabine“, der kürzlich ganz Deutschland lahmlegte, sagt er: „Joah, da waren die Wellen vielleicht ein bisschen höher, na und?“ Biike­neulingen empfiehlt er, sich genau dahin zu stellen, wo schon alle stehen, selbst wenn an einem anderen Ende des Lagerfeuers viel mehr Platz sei: „Sie werden schon riechen, warum.“

„Biike“ bedeutet „Feuerzeichen“ und steht für friesische Heimatliebe. 2014 wurde der Brauch in das nationale Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der Unesco aufgenommen. Der Ablauf ist immer gleich: Gegen 18 Uhr geht man mit brennenden Fackeln von den Dörfern – wahlweise mit Musikkapelle – zu einem der neun Sylter Biikeplätze. Dort versammeln sich alle um den Haufen aus Reisig, ausrangierten Weihnachtsbäumen und brennbarem Strandgut, der tagelang von der Dorf­jugend oder der freiwilligen Feuerwehr aufgeschichtet wurde. Ganz Lustige stecken ihn vorab an, sodass manche Ortsbeiräte Wachen aufstellen.

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In Westerland wird das Ereignis besonders groß gefeiert, dort erwartet man in diesem Jahr bis zu 5000 Menschen. Frauke Wehrhahn von der Inselverwaltung der Gemeinde Sylt gibt zu, dass das Freudenfeuer durchaus unterschiedlich bewertet wird: „Einige beklagen sich, dass es eine fünfte Jahreszeit geworden ist, um den Tourismus in den dunklen Monaten hochzuhalten. Aber ich glaube nicht, dass wir unsere Tradition vergessen, im Gegenteil, wir lassen nur viele weitere daran teilhaben.“ Wehrhahn hat in den alten Chroniken nachgelesen, dass Biiken erstmals schriftlich im 16. Jahrhundert erwähnt wurde. Sie waren alte germanische Frühlingsfeuer, mit denen der Winter vertrieben werden sollte. Diese waren eng mit dem Petritag am nächsten Tag verknüpft, einer von drei Gerichtstagen im Jahr. Es wurden Verträge geschlossen und bestimmt, wann die Walfänger zur See fahren würden.

Heute gibt es weder Walfänger auf der Insel noch viele Personen, die Söl’ring, das Sylter Friesisch, beherrschen. Gerade mal drei Prozent der Einheimischen verstehen es, erklärt Maren Jessen, die bei der Keitumer Biike­ eine Ansprache halten wird. Zur Tradition gehört es nämlich, dass vor dem Feuer immer zwei Reden gehalten werden, eine auf Söl’ring, eine auf Hochdeutsch. Erst wenn Maren Jessen am Freitag „Tjen di Biiki ön“ („Macht die Biike an“) gerufen hat, wird das Holz angezündet und die Strophen des Liedes „Üüs Söl’ring Lön“ („Unser Sylter Land“) angestimmt. Die Sprache gebe den Einheimischen Wurzeln, glaubt Jessen, sie müsste obligatorisch in der Schule gelehrt werden: „Die Rede auf Friesisch hat eine große Bedeutung, sie ist ein Zeichen dafür, dass es die friesische Minderheit noch gibt. Ohne sie würden wir ein Stück Kultur verlieren.“

Jessen wurde auf Sylt geboren, ihre Vorfahren lebten seit mindestens dem 16. Jahrhundert auf der Insel, mehr Heimatverbundenheit geht nicht. „Ich habe Gänsehaut, wenn ich am Feuer stehe, weil ich mich so freue, Insulanerin zu sein“, sagt Jessen.

Ähnlich geht es auch Steffi Böhm, Bürgermeisterin von Kampen. Sie war schon als Kind dabei: „Zur Biike war immer alles erlaubt. Wir durften sogar rauchen und pafften dann im Rauch stehend herum.“ Heute geht es geordneter zu, doch die Kinder, die inzwischen nicht mehr auf der Insel leben, weil sie irgendwo studieren oder arbeiten, kommen zum Biikebrennen zahlreich zurück. „Wir müssen unsere Tradition hochhalten, unsere Geschichte. Umso schöner, wenn die jungen Leute es auch so sehen“, sagt Böhm. Es sei ein besonderes Wir-Gefühl, das rund um die Flammen entstehe. Sie findet es nicht verwerflich, wenn für die Touristen Glühweinstände aufgebaut würden, die Gäste von außerhalb könnten ja nicht wissen, dass sich eigentlich jeder etwas mitbringt.

Das sieht Maren Jessen anders: „Wir leben hier alle von den Touristen, aber wir sollten ihnen zuliebe nicht noch Würstchenbuden aufstellen, wo ursprünglich keine hingehören. Wenn wir unsere Kultur verfälschen, dann ist sie nichts mehr wert!“ Jessen, die in ihrer Rede den Bauwahn auf Sylt kritisieren wird, hat allerdings nichts dagegen, wenn jedes Jahr mehr Leute zum Biike-fest kommen.

Einige Sylter beschweren sich, es seien inzwischen zu viele Touristen, sie würden selbst nicht mehr hingehen. „Das ist dumm“, findet Jessen. Den Kritikern möchte sie raten: „Seid selbstbewusst und sagt: Das ist unser Fest. Niemand sollte sein Kulturgut zur Seite schieben, weil sich auch Fremde dafür interessieren.“

Neben den Reden spielen auch eine Puppe oder ein Fass eine große Rolle. Sie sitzen auf dem Holzhaufen, und erst wenn sie runterfallen, ist der Winter der Legende nach vertrieben. Die Puppe für die Norddörfer Biike fällt in diesem Jahr gigantisch aus, fast zwei Meter groß. Angefertigt wurde sie von der 4. Klasse der Norddörfer Schule. 23 Kinder haben aus Stroh, alten Klamotten, einer Perücke und etwas Schminke eine große Dame mit Hut gebastelt. „Die Mädchen waren für die Gesichtsbemalung zuständig, deshalb ist es in diesem Jahr eine Frau geworden“, sagt Klassenlehrerin Sabine Hansen lachend.

Im Vorfeld hatte die 47-Jährige Ärger, weil sie per Facebook nach einem Styroporkopf gesucht hatte und einen Shitstorm dafür erntete. Heute würde man keine Puppen mehr verwenden für die Biike, sondern nur noch Fässer, meckerten die Hater.

Die brennenden Figuren würden den Kindern Angst einjagen. „Meine Erfahrung zeigt das Gegenteil. Die Kinder sind total stolz auf ihre Puppe.“ Am Freitag jedenfalls laden alle 23 Kinder ihre selbst gemachte Frau auf eine Schubkarre und fahren sie zum Biikeplatz. Sie werden später alle Strophen des Söl’ring-Liedes singen, die Sylter Hymne. „Eigentlich rührend, wie sehr die Tradition in ihnen steckt“, sagt Sabine Hansen.

Sobald die Puppe fällt, verlassen alle Gäste fast schlagartig das Feuer und gehen Grünkohl essen. Die Restaurants auf der Insel sind alle schon ausgebucht. Eines der größten Dinner findet im Benen-Diken-Hof in Keitum statt, 120 Personen werden dort gemeinsam Grünkohl mit in der Pfanne kandierten Pellkartoffeln genießen; Hausherr Claas-Erik Johannsen muss wahrscheinlich im Stehen in der Küche seine Mahlzeit einnehmen, weil sein Hotel bis auf den letzten Notplatz belegt ist.

Johannsen, der sich auch ehrenamtlich als Feuerwehrmann engagiert, geht mit seinen Gästen gemeinsam zur Biike und erklärt die Tradition, den Ablauf und das Sinnbild, für das die Biike seiner Ansicht nach heute steht: „Es geht um das Zusammenkommen eines Dorfes.

Eine Herausforderung wie ein großes Feuer kann man nie alleine lösen, nur in einer Dorfgemeinschaft. Die Biike ist ein Bekenntnis. Wenn wir Freitag zusammen am Feuer stehen, dann wissen wir ohne es aussprechen zu müssen: Wir halten zusammen.“

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