Berlin-Neukölln: Der Hinterhof der Hauptstadt - DER SPIEGEL

2021-11-22 13:11:29 By : Mr. Roger He

Berlin - Hier ist nichts zu gewinnen, das ist Frank Bossin auf den ersten Blick klar. Hinter den verschmierten Fenstern sind nur leere Räume zu sehen. Ein paar Kabel am Boden, ausgerissene Beschläge. Nichts deutet darauf hin, dass hier vor kurzem Kebabs verkauft wurden.

"Typisch für Neukölln", sagt Bossin, "die müssen den Laden im Nacht- und Nebelbetrieb geräumt haben." Bossin ist seit 16 Jahren Gerichtsvollzieher. Eigentlich wollte er von dem verschuldeten Dönerhändler eine eidesstattliche Erklärung bekommen. Jetzt geht er wie so oft mit leeren Händen.

Bossins Mission ist fast aussichtslos. Der 42-jährige Beamte soll in einem Viertel Geld sammeln, in dem jeder Zweite von Sozialleistungen lebt. "Hier sind die Leute manchmal jenseits von Gut und Böse", sagt Bossin. "Sie sitzen den ganzen Tag vor dem Fernseher, schauen sich Spielshows an und live auf Hartz IV."

Bossin trägt Pferdeschwänze, modische Sonnenbrillen und eine Tarnjacke. Man könnte sich gut vorstellen, dass er in einer Werbeagentur arbeitet. Stattdessen wandert er fast täglich durch den Norden von Neukölln. Mehr als 150.000 Menschen leben hier in dicht gedrängten Gründerzeithäusern. Die Straßen sind gesäumt von billigen Discountern, Handyshops und Imbissbuden. Es ist der Hinterhof der Hauptstadt: 50 Prozent Migranten, die Arbeitslosigkeit liegt bei knapp 35 Prozent.

Michael Hess ist einer der ältesten Fälle von Bossin. Es ist zehn Uhr morgens und das Klopfen des Gerichtsvollziehers hat den Arbeitslosen geweckt. Leere Bierflaschen auf dem Couchtisch, daneben ein schläfrig aussehender Besucher. "Wir haben gestern etwas getrunken", entschuldigt sich Hess, "dann sind wir eingeschlafen." Der 60-Jährige hat 15.000 Euro Schulden angehäuft. "Die verjähren, wenn ich tot bin", sagt Hess gelassen. "Sie können warten."

Der Wegfall der Berliner Subventionen nach dem Mauerfall hat Neukölln besonders hart getroffen. Zehntausende Arbeitsplätze in der Industrie wurden gerettet. Was bleibt, ist eine Armee schlecht qualifizierter Leute ohne Perspektive. Wer klettern will, verlässt die Nachbarschaft. Auch Gerichtsvollzieher Frank Bossin lebte zehn Jahre in Neukölln. Dann packte er den Koffer, wegen seines Sohnes: "Ich wollte nicht, dass mein Kind in Neukölln zur Schule muss."

Warum das so ist, erraten Sie, wenn Sie die Karl-Weise-Grundschule besuchen. Draußen patrouillieren private Sicherheitsleute, drinnen steht Lisa Fey in einem kleinen Klassenzimmer. Lila Pullover, langes schwarzes Haar, Ring im rechten Nasenloch. Eine engagierte Erzieherin, die derzeit eine Sonderklasse in Lesen und Rechtschreibung unterrichtet: einen Deutschen, sechs Migrantenkinder. Auch die einfachsten Dinge müssen die Drittklässler noch üben. "Wir haben hier Kinder, die nicht wissen, wie man einen Stift richtig hält", sagt Fey.

Vor kurzem wurde die gesamte dritte Klasse einem Schreibtest unterzogen. Das Ergebnis war verheerend. Fast die Hälfte aller Studierenden hat ernsthafte Probleme mit der deutschen Sprache. Wenn die Kinder "TV" schreiben sollen, ist oft "Frensia" die Folge. "Sie schreiben, während Sie sprechen", sagt die Lehrerin. "Viele Eltern haben selbst so große Defizite, dass sie ihre Kinder nicht ernähren können."

Lassen Sie Paul "Referee" an die Tafel schreiben. Ein schüchterner Neunjähriger mit Drahtbrille, der ein wenig lispelt. Die Hand des Kindes bewegt die Kreide unsicher über die Tafel. "Zitssrechta" ist endlich da. "Wenn wir jetzt nicht eingreifen", sagt Fey, "dann bleiben die Kinder vielleicht ein Leben lang Analphabeten."

Drei Viertel der Neuköllner Migrantenkinder verlassen die Schule ohne Abschluss oder mit Hauptschulabschluss. Eine Jugend ohne Perspektive, die abzurutschen droht. Nirgendwo in Berlin ist die Jugendkriminalität ein größeres Problem: Die Polizei in Neukölln hat 162 Intensivtäter in den Akten. Die Zahl hat sich in den letzten zwei Jahren verdreifacht.

Auch Ali Kaya Neukölln, ein 20-jähriger Deutsch-Türke mit Silberketten und Gelfrisur, machte jahrelang verunsichert. Als Sohn eines strengen Imams aufgewachsen, war er der Anführer einer Bande von 60 jungen Leuten auf der Straße. "Kaum ein Tag ohne Kampf verging", sagt Ali. Die Bande hieß R44 - nach der alten Postleitzahl von Neukölln. Einige Mitglieder landeten im Gefängnis. Daraus hat Kaya gelernt: „Ich bevorzuge Rap statt Raubüberfälle“, sagt er heute.

Aber die alten Zeiten leben in seinen Liedern weiter. „Ich bin die Plage der Straße“, rappt er als DJ AK: „Der erste Ball ist frei und wenn ich mit dir fertig bin, weißt du, wer von uns hart ist.“ Zehntausende klicken seine Videos im Internet an. Es ist der Soundtrack der Migrantenjugend, die es verpasst hat.

Kaya hat einen Termin mit Freunden in der Nähe des S-Bahnhofs Neukölln. Später wollen sie ein neues Rap-Video machen. Einer von ihnen führt einen Kampfhund an der Leine, fast alle haben Messer griffbereit unter dem Gürtel. "Normal", sagt jemand in einer Truthahn-Trainingsjacke und einer roten Baseballmütze. "Das ist nicht, um Leute zu erstechen, aber wenn etwas passiert, muss man es in der Tasche haben."

Fernab der Ghetto-Attitüde, direkt an der Grenze zu Kreuzberg, leuchtet derzeit so etwas wie ein Hoffnungsschimmer. Angelockt von günstigen Mieten haben sich in den letzten Jahren viele junge Leute hier niedergelassen. Überall öffnen Boutiquen, Bars und trendige Cafés. Künstler und Kreative haben dafür gesorgt, dass der Kiez heute als angesagtes „Kreuzkölln“-Viertel bekannt ist.

An manchen Stellen wirkt Neukölln bunt statt knallhart. In der St. St. Galerie zum Beispiel erstrahlen die Wände in Gelb und Pink, und überall hängen großformatige Gemälde mit Blumen und erotischen Motiven. Mittendrin Zsa Zsa und Juwelia, zwei bunt geschminkte Transvestiten, die gemeinsam den Laden führen. "Du bist hier eine Art Pionier", sagt Zsa Zsa.

In ihrem Laden haben sich die beiden auf 50 Quadratmetern ein Stück Freiheit geschaffen. Gut 20 Gäste kamen an diesem Abend zur Vorstellung. Transen, Schwule, Szenegänger. Die Musik kommt aus dem CD-Player, Zsa Zsa und Juwelia singen Chansons und tanzen. Alles mehr gewollt als getan, aber sehr unterhaltsam. "Es ist wie New York in den 80ern", sagt ein Besucher mit leuchtenden Augen. "Du gehst eine dunkle Straße entlang, du hast Angst, dein iPod wird gleich gestohlen, und dann gibt es eine Bar voller junger Leute."

Manche machen sich schon Sorgen um den ursprünglichen Charakter des Viertels. Linke Aktivisten rufen im Internet zum Kampf gegen Gentryfication und Latte-Macchiato-Trinker auf. Vielleicht sind die Kreativen und Künstler tatsächlich Vorboten eines wirtschaftlichen Aufschwungs. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie auch Neukölln irgendwann den Rücken kehren. Spätestens wenn die eigenen Kinder zur Schule müssen.

Auf SPIEGEL ONLINE sind ab heute täglich Szenen aus dem Leben der Neuköllner zu sehen. Die Filme basieren auf einem SPIEGEL-TV-Special "Life in Focus: Berlin Neukölln" von Markus Pohl

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