Cold Cases Unit: Polizei startet neue Fahndung 42 Jahre nach der Tat - WELT

2022-09-03 09:45:03 By : Ms. Spring chan

A m 11. März 1975 wird ein Paar in den Boberger Dünen, einem bei heimlich Verliebten wegen seiner Verstecke beliebten Naturschutzgebiet nahe der Autobahn 1, überfallen. Birgit B., 23 Jahre alt, und der verheiratete Kaufmann Rainer K. sitzen an jenem Dienstagabend in seinem Auto, als ein Unbekannter die Wagentür aufreißt und das Paar mit einer Pistole bedroht. „Auf den Boden legen“, befiehlt der Unbekannte. Birgit B. muss ihren Freund fesseln. Als sich zwei Jogger nähern, scheucht der Täter sie weg. Dann schießt er dem auf dem Boden Liegenden in den Rücken und flieht.

Die Kugel zerfetzt die Lunge des 34-Jährigen, doch K. überlebt. Lebensgefährlich verletzt steuert er den Wagen zur Polizeiwache an der Billstedter Hauptstraße. Mit einem Rettungswagen geht es von dort aus ins Krankenhaus, wo er notoperiert wird. Der Angreifer jedoch ist bis heute nicht gefasst. Die Ermittlungen wegen versuchten Mordes verliefen bislang im Sande. Doch 42 Jahre nach der Tat geht die Polizei erneut mit dem Phantombild des Täters an die Öffentlichkeit.

Es sind die Ermittler der neuen Cold Cases Unit des Landeskriminalamtes (LKA), die den Fall aufklären wollen – mit neuen Denkansätzen und modernster Kriminaltechnik. Im September 2016 hatte LKA-Chef Frank-Martin Heise die Ermittlungseinheit im „Welt“-Interview erstmals angekündigt, einen Monat später nahm sie ihre Arbeit auf. Seit einem halben Jahr ermitteln die vier Kriminalbeamten und haben ein erstes, knapp 40 Jahre zurückliegendes Tötungsdelikt bereits aufklären können.

Die Beamten seien versierte Ermittler, betonte LKA-Chef Heise auf einer Pressekonferenz am Dienstag, die in den unterschiedlichsten Ermittlungsbereichen bereits umfangreich Erfahrung gesammelt haben. Und die eines verbinde: Sie seien noch nie bei der Mordkommission gewesen. Denn von dieser losgelöst, soll die Truppe „kalte“, also unaufgeklärte Kapitaldelikte ermitteln – wie eben jenen Mordversuch in den Boberger Dünen. Es sind Taten, die nach dem Strafgesetzbuch nicht verjähren. Und die, so sagt es Heise, mit unvoreingenommenem kriminalistischen Blick neu betrachtet werden sollen. Neue Ermittlungsansätze sollen herausgearbeitet, Spuren wie Sperma, Blut oder Haare mit den modernen forensischen Untersuchungsmethoden neu ausgewertet werden.

Belgische Forensiker haben einen Test entwickelt, der Aussagen über das Alter einer DNA-Quelle treffen kann. Auch sogenannte „Cold Cases“, also eingestellte Fälle, sollen so neu bearbeitet werden.

Neben den Boberger Dünen haben die Ermittler bereits fünf weitere Altfälle ins Visier genommen, darunter auch den des türkischen Mädchens Hilal Ercan, das 1999 im Alter von zehn Jahren verschwand. Die Polizei geht davon aus, dass das Mädchen getötet wurde. Auskünfte zum Ermittlungsstand wollte sie am Dienstag aber nicht geben. Es sind genau solche Fälle, die die Cold Cases Unit sucht: „Tötungsdelikte mit unbekanntem Täter“, erklärte Steven Baack, Chef der Einheit. Der 36-Jährige wechselte von einer Spezialeinheit, bei der er eine taktisch operative Einheit führte, zur Ermittlungsgruppe (EG) 163, wie die Einheit offiziell heißt.

Auch die Staatsanwaltschaft begrüßte die neue Einheit: Schon in der Vergangenheit seien Altfälle von der Mordbereitschaft bearbeitet worden. Doch mit der Cold Cases Unit werde man sich ihrer „systematisch und konzentriert“ annehmen können, sagte Oberstaatsanwalt Ronald Giesch-Rahlf. Der Vorteil sei, dass die Ermittler vom Tagesgeschäft entkoppelt seien und damit zeitlich unbeeinflusst. In den kommenden Monaten werde die Einheit eine Generalinventur erstellen, um eine Übersicht aller unaufgeklärten Fälle zu gewinnen. Danach müssten diese bewertet und priorisiert werden. Bis in die 50er-Jahre wollen die Ermittler zurückgehen, so das Ziel. Um wie viele Fälle es sich handelt, ist unklar. Jedes Jahr werden bundesweit rund 300 Todesfälle als Mord eingeschätzt. Die Taten werden zu 95 Prozent aufgeklärt, doch 10 bis 20 Fälle bleiben ungelöst.

Die Polizei gibt sich erfolgssicher: „Wir haben heute modernste Forensik, und wir haben einen neuen Verbündeten“, erklärte Baack, „die Zeit.“ Normalerweise sei die Zeit „Gegner jeder kriminalpolizeilichen Ermittlungen“, erklärte der 36-Jährige, der von einer Spezialeinheit, bei der er eine taktisch operative Einheit führte, in den Ermittlungsdienst wechselte. Doch Zeit verdecke nicht nur Spuren, die Zeit lege Spuren auch wieder frei, sagt Baack und erklärt an einem Beispiel: Wenn sich ein Täter einem besten Freund, der Ehefrau oder einem Gefängniskumpan anvertraut habe, dann könnten die alten Verbindungen mittlerweile derart zerrüttet sein, dass die Mitwisser heute durchaus mit der Polizei sprechen würden.

Im Fall einer toten Postbeamtin war es jedoch kein Geheimnisverrat, der die Ermittler vier Jahrzehnte später auf die Spur ihres Mörders brachte, sondern neue Analysemethoden der Rechtsmedizin. Anfang Dezember 1978 wurde die 25-Jährige in ihrer Wohnung in Harvestehude getötet. In dringenden Tatverdacht geriet ein 44-jähriger Versicherungskaufmann, der, wie sich herausstellte, der Liebhaber der Frau war. Ein Jahr saß Walter A. in U-Haft. Vor Gericht wurde er jedoch freigesprochen. Der Grund: Für das von den beiden sachverständigen Rechtsmedizinern ermittelte Todesdatum hatte er ein Alibi.

39 Jahre später jedoch sind sich die Ermittler der Cold Cases Unit sicher, dass die Polizei den Richtigen verhaftet hatte. Anhand des Sektionsprotokolls und den alten Fotos von Tatort und Leichnam gaben sie bei dem renommierten Rechtsmediziner Klaus Püschel ein neues Gutachten in Auftrag, der das Ergebnis seiner Kollegen revidierte: Für den neu berechneten Todeszeitraum hätte Walter A. kein Alibi gehabt und schuldig gesprochen werden müssen.

Trotz aller Freude über den Ermittlungserfolg – Gerechtigkeit brachte er nicht: Walter A. starb 1996 unbehelligt. Dennoch, sagt Baack, sei es wichtig gewesen, den Fall zu lösen – für die Angehörigen der Opfer: In diesem Fall die Schwester der jungen Postbeamtin. Zwölf Jahre alt sei sie zum Zeitpunkt der Tat gewesen, beschäftigt hat sie den Fall ihr Leben lang. Das Gespräch, das er mit ihr führte, nachdem der Täter zweifelsfrei identifiziert war, sei sehr emotional gewesen, gestand der 36-jährige Kriminalhauptkommissar. „Geschädigte und Angehörige haben Anspruch, irgendwann doch eine Antwort auf die Frage zu bekommen, wer ihnen dieses Leid zugefügt habe“, sagte LKA-Chef Heise. „Wer einen Menschen ermordet hat, soll sich niemals sicher sein, dass er nicht doch noch zur Verantwortung gezogen wird.“

Auch im Fall der Boberger Dünen hoffen die Ermittler um Baack auf Erfolg. Die Polizei präsentierte am Dienstag neben dem Phantombild auch einen Packriemen, wie er in der Wehrmacht, aber auch in der Bundeswehr benutzt wurde. Mit einem solchen Riemen musste Birgit B. ihren Freund fesseln. Doch in den Fall war in den vergangenen Monaten bereits Bewegung gekommen: In Medienberichten wurde bereits spekuliert, ob ein als Göhrde-Mörder bekannt gewordene Straftäter auch für den versuchten Mord in Boberg verantwortlich war.

Die WELT als ePaper: Die vollständige Ausgabe steht Ihnen bereits am Vorabend zur Verfügung – so sind Sie immer hochaktuell informiert. Weitere Informationen: http://epaper.welt.de

Der Kurz-Link dieses Artikels lautet: https://www.welt.de/162659269