Die letzte Schweizer Hutfabrik ist 100 Jahre alt - Blick

2022-09-24 13:25:57 By : Ms. Lorna Lee

Dunst in der Werkhalle, die grosse Frontscheibe beschlägt sich stellenweise. Kein kaltnasser Winternebel, hier ist es feuchtwarm wie in den Tropen, denn Julian Huber macht an der Dampfglocke einen Filzstumpen mit siedend heissem Wasser formbar. Huber ist Hutdesigner.

Das fauchende Eisengerät, an dem er hantiert, könnte glatt aus dem ersten Maschinenpark dieser Werkstatt im aargauischen Hägglingen stammen, so nostalgisch mutet es an: Die Hutfabrik ist die letzte der Schweiz und feiert dieses Jahr ihren 100. Geburtstag, 1919 gegründet als Damenhutfabrik M. Geissmann. Julian Huber ist erst 33 Jahre alt und doch bereits seit gut einer Dekade Geschäftsführer der Firma, die heute Risa heisst.

Die Kopfbedeckung war ein alter Hut, als der gelernte Polymechaniker 2008 zum familieneigenen Unternehmen stiess – zunächst in der Rolle eines Hutmachers – und 2010 mit seiner Mutter Gaby Huber-Sax den Betrieb übernahm. «Als ich hier anfing, konnte es nur noch aufwärtsgehen», so Julian Huber. Und es ging rauf: «Man merkt, dass der Hut wieder im Kommen ist», sagt er.

Die Wende hat sich in den letzten Jahren abgezeichnet. 2012 titelte «Der Spiegel» noch: «Hut ab!», und berichtete vom «Niedergang eines Modeaccessoires». Doch schon letztes Jahr stand in der Zeitung «Die Welt»: «Der Hut kommt zurück!» Und Anfang dieses Jahres forderte das Spielzeugweltenmuseum in Basel von den Besuchern einer viel beachteten Ausstellung «Mut zum Hut».

Und das nach jahrzehntelanger Verbannung: Mit der zunehmenden Automobilität nach dem Zweiten Weltkrieg fand der Hut unter dem Fahrzeugdach keinen Platz mehr. Zudem konnte er Frisuren zerzausen. «Die Damen legten den Hut mit Dauerwelle oder Hippie-Mähne ab», sagt der deutsche Historiker Tobias Engelsing (59). Er widmete der Kopfbedeckung mit der Ausstellung «Chapeau!» im Rosengarten-Museum von Konstanz (D) 2011 eine wehmütige Retrospektive.

Neben praktischen gab es auch politische Gründe für den Hutverlust. Engelsing sagt: «Bei den Männern verloren Kopfbedeckungen mit der Befreiungsbewegung der 1970er-Jahre ihre soziale Kennzeichnungskraft.» Beides – praktische Haarpflege und politische Rebellion – führte beim singenden Tollenträger Elvis Presley (1935–1977) in der Rock-'n'-Roll-Ära zur Hutablehnung. Und der stets barhäuptige US-Präsident John F. Kennedy (1917–1963) gab diesem Gebaren in seiner kurzen Amtszeit quasi die amtliche Legitimation.

Vorbei die Zeit, als Schauspieler Humphrey Bogart (1899–1957) in der Schlussszene des Spielfilms «Casablanca» (1942) mit Regenmantel und Borsalino auf dem Flugplatz steht und der ebenfalls behuteten Ingrid Bergman (1915–1982) unter der Hutkrempe hervor ein «Ich seh dir in die Augen, Kleines» zunuschelt. Kein Wunder, kam die italienische Hutmanufaktur Borsalino später in die Krise.

Der Niedergang der Hutindustrie erschütterte auch die Schweiz – besonders das Aargauer Freiamt mit seinem Zentrum Wohlen, das wegen der international berühmten Strohhüte als modisches «Chly Paris» galt. Um 1860 arbeiteten mehr als 60'000 Heimarbeiterinnen für die Freiämter Strohindustrie, um 1900 gab es nahezu 100 Firmen in dieser Branche. Risa im gut vier Kilometer nördlich von Wohlen gelegenen Hägglingen ist die letzte, die es heute noch gibt – die Krisen überbrückte Risa ideenreich mit einer Obstdörrerei und der Herstellung von Hosenknöpfen.

Dörrobst und Knöpfe produziert Risa nicht mehr. «Heute haben wir mit der Hutproduktion wieder genug zu tun», sagt Geschäftsführer Huber zufrieden. 10'000 Hüte verlassen jährlich die Werkstatt. Mit der Winter- und Sommerkollektion kommen je 70 bis 80 Hutmodelle in verschiedenen Farben auf den Markt. «Grün und Animal Prints sind momentan sehr in», sagt Huber.

Risa beschäftigt insgesamt 25 Personen. Ahmet Dirlik arbeitet seit 30 Jahren in der Fabrik. Er steht an der Plattiermaschine und drückt eine schwergewichtige Alu-Form in den von Huber vorgeweichten Filzstumpen. Hundertfach lagern die Negative aus Aluminium und Holz in allen Grössen und Gestalten auf den Regalen – «das eigentliche Kapital einer Hutfabrik», wie Huber sagt.

Er hat 50 bis 60 Hüte zu Hause, schöne aus Haarfilz und «Ruechihüte» aus Wolle. Momentan trägt Huber einen hellbraunen Fedora oder Bogart – die Krempe vorne modisch nach oben gebogen. Der Trilby, ein Fedora mit einer schmaleren Krempe, sei momentan sehr beliebt. US-Popsänger Justin Timberlake (38) und der deutsche Jazz-Sänger Roger Cicero (1970–2016) trugen in den letzten Jahren viel zu seiner Popularität bei.

In der Schweiz ist der Reggae-Sänger Dominik Jud alias Dodo (42) ein bekennender Trilby-Träger, vor allem im Winter. «Ich war schon immer Fan von Kopfbedeckungen», sagt Dodo. Das wissen auch seine Freunde: Sie bringen ihm deshalb regelmässig «lokale» Hüte von ihren Reisen als Geschenk mit. «Ich habe mittlerweile schon so viele, dass ich ein kleines Museum eröffnen könnte», sagt Risa-Stammkunde Dodo.

Stets mit einen Risa-Strohhut ist Büne Huber (57), Frontmann und Sänger der Berner Band Patent Ochsner, auf der Bühne. Risa pflegt nämlich die Tradition der klassischen Strohhüte aus der Gegend – Designer Julian Huber entwirft deshalb im Sommer neben der normalen noch eine Freiämter Kollektion. «Als Sonnenschutz ist der Strohhut heute wieder gefragter denn je», sagt er.

«Anzunehmen ist, dass schon die ersten aufrecht gehenden Menschen ein paar grosse Blätter so geflochten haben, dass sie vor Sonne und Regen geschützt waren», sagt Historiker Engelsing. «Menschenaffen bedecken ihren Kopf mit Blättern – soweit ich weiss, wenn sie Menschen nachahmen.»

Kein Zufall, hat das Wort «Hut» in der deutschen Sprache zwei Bedeutungen – maskulin «Kopfbedeckung» und feminin «Schutz». Ersteres zeigt sich in Redensarten wie «Alles unter einen Hut bringen» oder «Den Hut nehmen», das andere in der Wendung «Auf der Hut sein». Per Definition hat der Hut eine feste Form, was ihn von einer Mütze unterscheidet. Zudem hat er eine umlaufende Krempe, was ihn wiederum von einer Kappe abhebt, bei der das Dächli nur vorne rausragt.

Während das althochdeutsche Wort «Huot» bereits im 8. Jahrhundert nachweisbar ist, beginnt die Geschichte der professionellen Hutmacherei erst im europäischen Mittelalter: Damals vereinigten sich die Hersteller von Kopfbedeckungen – 1268 in der Pariser Corporation des chapeliers de paon, 1336 in der Zürcher Zunft zur Waag und 1363 in der Nürnberger Hutmacherzunft, um ein paar Beispiele zu nennen.

«Anfangs war der Hut ein wirkungsvoller Schutz gegen Witterung, dann wurde er zum Abzeichen sozialer oder politischer Zugehörigkeit und Rangabzeichen der Hierarchie», sagt Engelsing. «Das Lederkäppchen kennzeichnet den Senn aus den Bergen, der pelzbesetzte Zweispitz den feinen Tuchhändler aus der Stadt.» Ist das Tragen eines Kastorhuts nach der Französischen Revolution von 1789 oder eines Kalabresen bei den 1848er-Revolutionen eine Sympathie-Bekundung gegenüber den Aufständischen, so hat bei uns seit Friedrich Schillers «Wilhelm Tell» (1804) die Ablehnung des Huts etwas Revolutionäres.

Im Schauspiel fragt Gessler den widerspenstigen Helden Tell: «Verachtest du so deinen Kaiser, Tell, und mich, der hier an seiner Statt gebietet, dass du die Ehr versagst dem Hut, den ich zur Prüfung des Gehorsams aufgehangen?» Kein Wunder, ging Hutmacher Julian Huber früher kaum je in Theaterhäuser. Doch Risa produziert bis zu einem Viertel für Opern- und Schauspielproduktionen, unter anderem auch für die Fête des Vignerons in Vevey VD im letzten Sommer.

«Wenn man dafür gearbeitet hat, schaut man solche Aufführungen mega anders an», sagt Huber, der hinter einer Nähmaschine sitzt und mit geübter Hand das Hutband an seinem Modell festzurrt. Zu seiner Arbeit sagt er: «Man muss das Feeling und Freude haben und wissen, wie das Material reagiert.» Nach rund 35 Minuten ist ein einfacher Hut fertig – die Trocknungsphase nicht mit eingerechnet.

Die Materialkosten betragen zwischen 20 und 120 Franken, im Verkauf zahlt man für einen Risa 200 bis 250 Franken. Zu beziehen sind die Hüte nicht bloss im Fachhandel oder im Fabrikladen: Seit drei Jahren hat die Hutmanufaktur ein eigenes Geschäft in Zürich, seit wenigen Monaten auch eines in Basel. Wer einen Risa kauft, bekommt ein dauerhaftes Produkt: Bis zu fünf Mal lasse sich ein Hut auffrischen, sagt Huber. Nächstes Jahr will der gelernte Polymechaniker aber vor allem seine alten Werkmaschinen in der Fabrik erneuern – damit die Hutproduktion auch in Zukunft wie geschmiert läuft.