Discountermode: Wenn Mode ihren Zweck nicht erfüllt

2021-11-16 22:00:33 By : Ms. Morgan Zhang

Aldi Nord bringt seine erste eigene Modekollektion heraus und bedient sich fragwürdiger Mittel. Was ist, wenn Marketingpläne blind sind? Ein Kommentar

Es hätte so gut sein können. Es hätte ein Showcase-Event werden können. Aber auf Russisch gibt es ein Zitat, das die Situation am besten zusammenfasst: "Ich meinte es gut, aber es war wie immer."

Am 5. Oktober lanciert der deutsche Traditionsdiscounter Aldi Nord seine erste eigene Modekollektion „Aldi Original“ und präsentierte die Artikel vorab in einer Pop-Up-Ausstellung im Lager Neuzeit Ost in der Modersohnstraße in Berlin. Die Kollektion ist inspiriert von der Mode "Amerikanische Hip-Hop-Kultur der 70er und 80er Jahre", wie Aldi Nord als Reaktion auf Monopol-Nachfrage mitteilte. Weitere Einflüsse kommen aus den „Street Styles des Ruhrgebiets aus dieser Zeit“ – der Wiege von Aldi. Warum die Vorab-Präsentation der Kollektion nicht am genannten Geburtsort auftaucht, ist nur die erste von vielen Fragen, die der Versuch, eine Aldi-Bekleidungslinie zu etablieren, aufwirft. Aber fangen wir von vorne an...

Seit jeher haben marginalisierte Menschengruppen durch Mode ein Bewusstsein für ihre eigene Bedeutung in der Gesellschaft gefunden. Sei es durch Anmut und Anmut oder durch kraftvolle Selbstbehauptung: Mode dient den Menschen, die sie tragen. Auch bei der Identifikation und Selbstkonstitution im Hip-Hop hat Mode eine wichtige Rolle gespielt. Eine der prägendsten Modelinien, Rocawear, die aus der Kooperation mit dem Musiklabel Roc-a-Fella Records hervorgegangen ist, wurde beispielsweise von Hip-Hop-Legende Jay-Z gegründet. FUBU ist auch Teil einer Reihe von Streetwear-Modelabels, die als Zwischenergebnis einer Emanzipationsbewegung zu verstehen sind. Erst in den 1990er Jahren mussten diese Firmen von afroamerikanischen Communities gegründet werden, nachdem die dazugehörigen Stilrichtungen durch die Hip-Hop-Kultur der 1970er und 1980er Jahre größere Aufmerksamkeit erhielten. Denn zuvor gehörten nur wenige Modelinien zu den afroamerikanischen Communities, die die Styles in der Öffentlichkeit bekannt machten. Die Designer Kianga Milele oder Farai Simoyi-Agbebe, die Künstler wie Sean Combs, Jay-Z, Beyoncé, Rihanna oder Nicki Minaj einkleiden, erzählen heute von der Unaussprechlichkeit dieser Emanzipationskämpfe. Und sind es immer noch.

Aber was ist mit den "Aldi-Originalen"? Die einzelnen Teile lassen sich in Bezug auf ihre proklamierte Verwandtschaft erkennen: Sportjacken, Hoodies, Jogginghosen, Anglermützen und „Aldilettes“ (nach Adiletten) gehören zum Sortiment. Den Bewegungen kann eine klassenkampfnahe Nähe zwischen den Arbeitern des Ruhrgebiets und der amerikanischen Hip-Hop-Kultur zugesprochen werden, aber an wen richtet sich die aktuelle Bekleidungslinie? "Dieser Stil wurde in die Gegenwart übertragen und adaptiert. Das Ergebnis ist eine moderne, angesagte Kollektion, die Spaß macht und zu den Straßen moderner Großstädte wie Berlin passt", so Aldi. Und genau hier liegt das erste monumentale Problem dieser Sammlung.

Eine "moderne, hippe Kollektion, die zu den Straßen moderner Städte wie Berlin passt" wird den Emanzipationskämpfen der zugrunde liegenden Kulturen in keinster Weise gerecht. Keine Frage: Aneignungen und Zitate aus künstlerischen Werken oder kulturellen Kontexten gehören ebenso zur Kunst wie zur Mode. Damit verbunden ist jedoch immer die Frage: Warum? Welches Markenzeichen der Hip-Hop-Kultur der 80er erfährt hier eine sinnvolle Neuinterpretation? Wie wird der Bezug zur Arbeiterkultur des Ruhrgebiets durch eine solche Modekollektion verstärkt oder (kritisch) reflektiert? Die Antwort: gar nicht.

An dieser Stelle könnte man zu Recht eingreifen: Warum ausgerechnet auf dieser Ansammlung herumfahren? Der gleiche Vorwurf der Unkenntnis der gesellschaftlichen Verantwortung könnte genauso gut vielen anderen Modedesignern gemacht werden! Ja, das ist richtig. Dann lass es uns tun.

Was hier passiert, ist ein Symptom des Turbokapitalismus, in dem Mode auch als Referenzsystem für ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit ausgenutzt wird. Der versprochene Transfer in die Gegenwart beschränkt sich auf einen schneidigen Werbeclip in der Aldis-Kollektion, dessen visueller Stil irgendwo zwischen Vaporwave und Neon Noir liegt und eine unbeholfene Zielgruppe in den Bann des Sortiments ziehen soll. Dieselbe ungeschickte Zielgruppe, die vor einigen Jahren damit begann, auf Festivals, Raves und "auf den Straßen moderner Städte wie Berlin" Arbeiteruniformen als Mode zu adaptieren. Plötzlich liefen Leute in Ikea- und DHL-Hemden beim Fusion, einem jährlichen Techno-Festival mit einst links-politischer Ausrichtung und mittlerweile mehr als 100.000 Gästen, die es für ziemlich selbstironisch hielten.

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Die Künstlerin Hito Steyerl hat in ihrem Projekt „Mission Accomplished: Belanciege“ 2019 dieselben Mechanismen im Mode-Hype der letzten Jahre sichtbar gemacht: Balenciaga. Sowohl die Inszenierung von Balenciagas Mode auf den eigenen Kanälen sozialer Netzwerke als auch die spezifischen Einzelteile bedienen sich einer Form der Aneignung, die die Mode des Proletariats laufstegtauglich im postironischen digitalen Zeitalter machen soll. Leider waren und sind so viele Käufer dieser Meta-Mode verfallen, dass sie nur Selbstzweck ist und nicht zur Demokratisierung der Haute Couture beiträgt. Dazu gehören auch die DHL-Shirts von Vetements – der Modemarke, die über Creative Director Demna Gvasalia direkt mit Balenciaga verbunden ist – sowie die Balenciaga Ikea Bag „Arena Extra Large Shopper Tote“ für damals 2.145 US-Dollar. 

IKEA "geschmeichelt zutiefst, dass die Balenciaga-Tragetasche der ikonischen nachhaltigen blauen Ikea-Tasche für 99 Cent ähnelt." B'ciaga ($ 2.145) muss noch kommentieren pic.twitter.com/eelkFPvn46

Mit der Herausgabe einer eigenen Kollektion, könnte man meinen, behauptet der Discounter seinen eigenen Platz in der Modewelt. Die zuvor instrumentalisierte Arbeitskleidung könnte als Meta-Meta-Mode in einem Akt der Wiederaneignung eingesetzt werden, wenn sie einer betroffenen, marginalisierten Gruppe zugute kommen sollte. Aber ist das so? Die "superexklusiven" Artikel der "Aldi Original"-Kollektion werden nicht zu absurden High-Fashion-Preisen verkauft, sondern erfordern Markentreue gegenüber dem Discounter: Die Fashion-Artikel gibt es beim Besuch der Pop-Up-Ausstellung, bei markeneigenen Verlosungen Instagram-Account oder mit etwas Glück und Schnelligkeit bei einem „Einkauf im Wert von 15 Euro“ in einem der 2.300 Aldi-Nord-Filialen. Ohne direkte Einnahmen aus der Aktion kann natürlich niemand darauf bestehen, dass der Gewinn zum Beispiel in die Erhaltung der Industriekultur und den Strukturwandel im Ruhrgebiet investiert wird. Allerdings betont Aldi gegenüber Monopol auch, dass hier die Handelskette geboren wurde.

Noch effektiver wäre das Geld, um Gewerkschaften zu stärken oder jene Menschen besser zu bezahlen, die mehr oder weniger unfreiwillig Kleidung mit Aldi-Aufdruck tragen: ihre eigenen Mitarbeiter. Statt Applaus wäre das eine zeitgemäße Maßnahme, um die "systemrelevanten Berufsgruppen" angemessen zu würdigen, anstatt hippe Jugendliche die Kleiderordnung persiflieren zu lassen. Die Aktion spricht nur neue Zielgruppen an, die ihr Geld für die üblichen Aldi-Produkte lassen sollten.

Gleichzeitig bringt auch Discounter-Konkurrent Lidl seine eigene Streetwear auf den Markt, mit den gleichen Auswahl- und Marketingstrategien: Sneakers, Socken, Shirts und Slipper sind Teil des neuen Sortiments der Kollektion, die mit der Verlosung für Schuhe bei Lidl begann Farben im letzten Herbst (Blau, Gelb, Rot) wurde versprochen. Wer noch meinen könnte, dass dies die Demokratisierung der Mode befördern würde, muss bedenken, dass die exklusiven Einzelteile bereits nach kurzer Zeit für mehrere hundert Euro online gehandelt wurden. Auch wenn der Rivale von Aldi bei kultureller Aneignung und expliziten Zitaten zumindest vorsichtiger ist, profitiert nur einer von diesem Marketing: Lidl selbst.

Auch Lars Eidinger, der mit seiner 555 Euro teuren Aldi-Ledertasche auf den Zug der ironisch Fernen aufsprang und dabei völlig vergaß, dass Kunst im Gegensatz zur Schauspielerei nicht allein von Nachahmung leben kann, war auch einer der jüngsten Verkoster des laufenden Jahres.

Diese Form der kapitalistischen Modeausbeutung ähnelt dem Phänomen des Armutstourismus, bei dem privilegierte Gruppen versuchen, an die Orte oder gar im Outfit strukturell benachteiligter Milieus zu gehen und soziale Ungleichheit als temporäres Experiment zu vermarkten. Nun könnten "Aldi Original"-Fans widersprechen: "Gute Mode provoziert! Gute Mode polarisiert und ist trotzdem optisch ansprechend!" Das muss man schließlich der Kollektion überlassen: Die Designs, auch wenn sie Trends der letzten Jahre wiederaufgreifen, sehen ziemlich gut aus. Das liegt nicht zuletzt an dem mittlerweile ikonischen Aldi-Logo, das bekanntlich vom bildenden Künstler Günter Fruhtrunk gestaltet wurde. Dieses Logo findet sich in verschiedenen Variationen in der „Aldi Original“ Kollektion. Und wie haben Sie mit der Walter Storms Galerie zusammengearbeitet, die den Nachlass des Künstlers verwaltet? „Die Kollektion ist eigenständig entstanden. Wir freuen uns aber, dass das legendäre Design die Marke Aldi weiterhin unverkennbar prägt“, antwortet Aldi Nord auf Nachfrage.

Ohne Rücksicht auf Verluste

Auch die Walter Storms Galerie reagierte sichtlich überrascht auf Monopol: "Eine Anfrage oder kurze Information von Aldi Nord im Vorfeld wäre sicherlich wünschenswert gewesen und hätte auch den Gepflogenheiten entsprochen, die wir als Kunstliebhaber und im Kunsthandel pflegen." Wir haben uns hoffentlich das Urheberrecht für die Planung der markeneigenen Marketingstrategien gesichert: „Ja, die Formensprache von Günter Fruhtrunk ist grandios, zeitlos, immer hip und mega aktuell. Das spüren wir auch bei seinen Kunstwerken [...] Rechtlich gehe ich davon aus, dass Aldi Nord die Verwertungsrechte mit der VG-Bildkunst geklärt hat. Das für die Tasche verwendete Motiv basiert auf einem Bild, das im Werkverzeichnis festgehalten ist“, erklärt Walter Storms. 

Diese Verzweigung von fragwürdiger Meta-Meta-Fashion und rücksichtsloser (Wieder-)Aneignung ist Grund genug, die Discounter-Bekleidungslinie zumindest kritisch zu hinterfragen, bevor man sich einfach die Bauchtasche umschnallt und einen Fischerhut aufsetzt. Oder um ein letztes berühmtes Zitat zu verwenden: Wer eine Jogginghose von Aldi trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.