Friedrichshafen: Weder männlich noch weiblich: Hauke Lenk aus Fischbach wünscht sich ein größeres Bewusstsein für nichtbinäre Geschlechtsidentitäten | SÜDKURIER

2022-10-08 20:14:24 By : Ms. Annie Lee

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„Ich würde nicht sagen, dass ich nichtbinär bin.“ Das betont Hauke Lenk direkt zu Beginn des Gesprächs. „Mein Geschlecht ist nichtbinär, das ist nur eine von vielen Eigenschaften, die mich ausmachen.“ Trotzdem thematisiert Hauke diese Zuordnung direkt und erklärt auch, wieso: „Ich fände es gut, wenn man sich mit Pronomen vorstellt und generell andere nach ihren Pronomen fragt. Man kann ja nicht einfach von außen oder anhand des Namens ein Geschlecht für jemand anders festlegen.“

Lenk ist 20 Jahre alt, macht derzeit ein Fernstudium und möchte ab Herbst am liebsten in Tübingen studieren. Die Zusage steht noch aus und wegen der Corona-Pandemie ist unklar, wie das dann alles ablaufen wird. Aktuell ist Hauke mit der Planung der ersten Queer-Pride-Kundgebung in Friedrichshafen beschäftigt, die am Sonntag, 6. September stattfinden soll. Doch was ist überhaupt ein nichtbinäres Geschlecht und was hat es mit „queer“ zu tun?

Nichtbinarität gehört zum queeren Spektrum, also zu dem, was der Heteronormativität widerspricht, und bedeutet, dass Hauke weder männlich noch weiblich ist. Dabei ist Nichtbinarität nicht gleichzusetzen mit Intersexualität, also der medizinisch uneindeutigen Ausprägung der Geschlechtsorgane. Es kann bei einer Person beides zusammenkommen, dies muss aber nicht der Fall sein.

In Hauke Lenks Fall war bei der Geburt ein eindeutiges Geschlecht zugewiesen und festgeschrieben worden. Für Hauke ist jedoch weder das, was wir als typisch männlich wahrnehmen, noch das, was wir als typisch weiblich wahrnehmen, stimmig. Daher hat Hauke vor einem Jahr den Geschlechtseintrag entfernen lassen und einen neuen, geschlechtsneutralen Vornamen gewählt. Dabei sind Haukes Geschlechtsteile trotzdem ein großes Thema: nicht für Hauke selbst, aber für die Außenwelt.

„Ich werde so oft gefragt, was für Genitalien ich denn habe und zwar oft schon zu Beginn eines Gesprächs“, kritisiert Hauke. Welche Bedeutung diese Information für die Fragesteller hat, versteht Hauke nicht und sieht sich auch nicht in der Pflicht, ein solch intimes Detail jedem zu verraten. Fast so häufig werde die Frage gestellt, auf welche Toilette Hauke denn gehe, wenn es getrennte Sanitärbereiche für Männer und Frauen gibt.

Nicht selten passiere es, dass Hauke einfach einem der beiden binären Geschlechter zugeordnet werde. Das habe sich inzwischen vor allem dadurch verändert, dass Hauke Testosteron einnimmt, um sich im eigenen Körper wohler zu fühlen. „Wenn mich jemand für männlich hält, werde ich eher ernstgenommen und gleichzeitig sind die Leute irgendwie weniger freundlich zu mir. Das ist sehr spannend.“

Hauke lacht und meint dann: „Ich finde es ja gut, für voll genommen zu werden, aber ich mag doch nicht nur deshalb für voll genommen werden, weil meine Stimme etwas tiefer geworden ist und wegen der paar Fusseln am Kinn.“

Es gibt auch Tage, an denen Hauke Nagellack trägt. Das sorgt dann entweder wegen der Stimme und des sonstigen Erscheinungsbildes mit den sehr kurzen Haaren und der gerade geschnittenen Kleidung für Irritation. Oder aber Hauke wird wegen der farbigen Fingernägel als weiblich wahrgenommen und dementsprechend als Frau angesprochen.

Hauke zieht das Hemd hoch und deutet auf das Pusteblumenmuster des Shirts darunter: „Ich habe mich selbst dabei ertappt, wie ich diese Rollenbilder im Kopf habe, als ich das hier angezogen habe. Ich habe mich nämlich gefragt, ob ich überhaupt Blumenmuster tragen kann.“ Solche Muster seien normalerweise auf Frauenkleidung zu finden.

„Ich finde ja, es sollte diese Zuschreibungen nicht geben“, betont Hauke und würde es für sinnvoller halten, wenn Kleidungsstücke einfach nach ihrer Form bezeichnet würden, also etwa „tailliert“ oder „gerade geschnitten“. Dass die Einteilung von Kleidungsstücken nach Geschlecht teils auch absurde Formen annimmt, beschreibt Hauke mit einem Beispiel: „Bei einer Onlineplattform, auf der man Secondhand-Kleidung privat verkaufen kann, muss wirklich alles Mann oder Frau zuordnet werden; auch eine schlichte schwarze Baumwollmütze. Sonst kann man sie nicht einstellen.“

Was bei Kleidungsstücken nervig oder sogar amüsant sein kann, ist in anderen Bereichen des Lebens ein echtes Problem. Haukes Nichtzugehörigkeit zum männlichen oder zum weiblichen Geschlecht wurde mal als „Phase“, die vorübergehe, einsortiert und während einer Therapie wegen Depression gar als Störung und Teil des Krankheitsbildes: „Ich hätte nie erwartet, dass ich ausgerechnet von Therapeuten die schlimmste Diskriminierung erfahre. Die sollten doch eigentlich mit mir daran arbeiten, dass es mir besser geht.“

Hauke beschreibt den Moment, zu erfahren, dass es mehr Menschen gibt, deren Geschlecht nicht ins aktuelle Raster der Gesellschaft passt, als große Erleichterung: „Ich habe davor tatsächlich gedacht, ich wäre der einzige Mensch auf der Welt, der sich außerhalb des binären Geschlechtersystems befindet.“

Damit sich andere nichtbinäre Menschen nicht genauso allein fühlen, wünscht sich Hauke bessere Aufklärung über die Thematik in Schule und Gesamtgesellschaft.

Informationen zum Thema gibt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung.

Heinz-Jürgen Voß promovierte zum Thema „Geschlechterdekonstruktion aus biologisch-medizinischer Perspektive“ und hat aktuell eine Professur für Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg im südlichen Sachsen-Anhalt inne.

Herr Voß, als Gegenargument zur Geschlechtervielfalt dient häufig die Natur: Chromosomensatz XX ist gleich Mädchen, XY ist gleich Junge. Ist es biologisch wirklich so einfach mit dem Geschlecht?

Das ist ein deutlich komplexeres Wechselspiel aus unterschiedlichen Faktoren: Es wurden inzwischen mehr als 1000 Gene identifiziert, die sich in irgendeiner Weise auf die Ausbildung des menschlichen Geschlechtstrakts auswirken, etwa 80 davon sind mehr oder weniger gut erforscht. Hinzu kommen Einflussfaktoren wie Umwelt, Hormone und die bereits erwähnten Chromosomen, wobei selbst diese keine so eindeutige Sache sind: Es gibt XX-Männer, also Menschen mit einem XX-Chromosomensatz und einem typisch männlichen Erscheinungsbild und XY-Frauen, also Menschen mit Männern zugeschriebenem Chromosomensatz, die aber ein typisch weibliches Erscheinungsbild haben. Es wäre doch auch erstaunlich, wenn so viele Faktoren sich im Regelfall immer nur auf zwei Optionen zuspitzen würden, oder nicht?

Beispielsweise das Turner-Syndrom (weibliches Erscheinungsbild, lediglich ein X-Chromosom) wird oft erst bei Frauen über 30 festgestellt, wenn diese Kinder bekommen möchten und es nicht funktioniert. Allerdings verrät schon der Name Syndrom, dass solche Abweichungen meist pathologisiert werden. Als schlimmste Folge der Pathologisierung von „Abweichungen“ der Geschlechtsentwicklung sehe ich die „normangleichenden“ Operationen an Kindern, die intersexuell geboren werden, also gleichzeitig Merkmale des männlich zugeordneten und des weiblich zugeordneten Geschlechtstrakts aufweisen. Die Anzahl dieser Operationen sinkt nicht, obwohl man meinen könnte, dass inzwischen eine größere gesellschaftliche Offenheit besteht. In fast 100 Prozent der Fälle haben die medizinischen Eingriffe schwere physische und psychische Folgen für die Behandelten. Gleichzeitig zeigen diese Eingriffe, dass biologisches Geschlecht eben nicht so einfach ist, sondern der Genitaltrakt sich individuell unterschiedlich ausprägt. Es gibt einen Gesetzesentwurf von Februar diesen Jahres für ein Verbot solcher Operationen.

Welchen Umgang mit von typisch Mann und typisch Frau abweichenden Geschlechtern würden Sie sich stattdessen wünschen?

Ich wünsche mir, dass schon früh im Unterricht gelehrt wird, dass man Geschlechtsentwicklung als einen Prozess begreifen muss; da gibt es Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Faktoren und mit der Umwelt. Es gibt keine Eindeutigkeit, wie man bis heute oft leider noch lehrt. Auch lassen sich Biologie und Gesellschaft nicht einfach trennen. Eine Trennung von sex und gender, also biologischem und sozialem Geschlecht war erforderlich, um mehr Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu erreichen, zementiert aber gleichzeitig eine Natürlichkeit des Geschlechts, die so nicht haltbar ist. Es ist also einerseits wichtig, Begriffe zu haben, um Diskriminierung aufzuzeigen, andererseits darf man nicht vergessen, dass Sprache Realität herstellt. Ich bevorzuge etwa den Unterstrich oder Asterisk (*), um alle Geschlechter einzuschließen und vor allem auch sichtbar zu machen. Wortbildungen wie „Studierende“ schließen zwar alle ein, schaffen aber keine Sichtbarkeit und Irritation bei den Lesenden.

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