75 Jahre Perlon: Die zarten Strümpfe aus dem Gulaschkessel - WELT

2022-06-18 20:23:50 By : Ms. ran huang

E s war eine streng geheime Sache. Schließlich sollte Amerika, das stolz auf seine Nylons war, nichts vom deutschen Konkurrenten erfahren. Zusammen mit einem kleinen Team werkelt der Stuttgarter Paul Schlack im Labor mit unorthodoxen Mitteln.

In einem Kessel, in dem eigentlich Gulaschsuppen in Großküchen-Mengen gekocht wurden, wird die Mixtur gefüllt. Auf 240 Grad Celsius erhitzt, brodelt diese eine ganze Nacht lang vor sich hin und wird abschließend durch einen Röhrenofen geschickt.

Was der Chemiker dann erblickt, ist ein zäher Brei, der so gar nicht an feines Garn erinnert. Aber die Masse besteht aus Fäden, die sich endlos ziehen lassen und nie abbrechen. Ein elastisches, schier unverwüstliches Material ist gefunden – die Geburtsstunde des Perlons ist Ende Januar 1938 besiegelt. Eine Fabrik bei Augsburg beginnt in den 1950er mit der Perlon-Herstellung fürs Damenbein.

Schlack, 1897 in Stuttgart geboren, studiert in seiner Heimatstadt an der Technischen Hochschule Chemie und promoviert. Er wird in Berlin Leiter der Forschungsabteilung bei IG Farben. Die Produktion von Kunstseide gehört zu seinen Aufgaben.

Damenstrümpfe schwirren ihm dabei nicht durch den Kopf. Vielmehr sucht der Sohn eines schwäbischen Beamten nach einer Faser, die nicht pflanzlicher oder tierischer Natur ist.

Und er weiß, dass der US-amerikanische Kollege Wallace Hume Carothers, beschäftigt beim Chemiekonzern Du Pont, längst seine Nylonfaser patentieren ließ. So muss Schlack, will er ein juristisch unanfechtbares Produkt liefern, mit anderen Substanzen arbeiten.

Sein Trick: Der Chemiker setzt auf Caprolactam, das aus Steinkohleteer gewonnen wird – als "unbrauchbar" hatte dieses Material Carothers eingestuft.

Zwar läuft ein halbes Jahr später die erste Strumpfproduktion an. Aber das Perlon-Garn, das wesentlich preisgünstiger ist als die kunstseidenen Strümpfe, dient bald Kriegszwecken. Für Schläuche, durch die Flugzeugreifen verstärkt werden, Seile für Fallschirme oder Borsten zum Reinigen der Waffen wird es eingesetzt.

Nach dem Krieg ist die deutsche Kunstfaser-Herstellung zerstört. So bestimmt anfangs das US-amerikanische Pendant den Markt. Denn auch deutsche Frauen sind ganz wild auf jene hauchdünnen Strümpfe, die sich eng und transparent ans Bein anschmiegen.

Solche Nylons ergatterten die Damen auf dem Schwarzmarkt. Zur Ersatzwährung, ähnlich Zigaretten, avancieren die Nylons, für die "Frau" um die 35 Deutsche Mark hinblättert.

Doch ab den 1950er-Jahren geht es mit der deutschen Faser bergauf. Eine Fabrik bei Augsburg-Bobingen beginnt, Perlon zu produzieren. Schlack ist dort Direktor. Mit einer Oma wirbt das Unternehmen auf einem Plakat. "Nie mehr stopfen und flicken", verspricht die ältere Dame, das würden nun Perlons bieten, die weniger als zehn Gramm wiegen und stabiler als Nylons sind.

Der Markt beginnt zu boomen. 1952 gibt es in Westdeutschland bereits 92 Strumpffirmen. Die Produktion wächst. In Westdeutschland steigt die jährliche Herstellung von neun Millionen Paaren im Jahr 1950 innerhalb von drei Jahren auf 58 Millionen Paare an.

Die Preise sinken. Kosteten Strümpfe 1950 noch fast zehn Mark, gingen sie Mitte der 50er für knapp drei Mark über den Tisch. Er war die Zeit der Petticoats und des Elvis Presleys, zu der sich das Perlon gesellte. Wobei die aufkommenden Strumpfautomaten eine Rund-Um-die Uhr-Versorgung garantierten.

Für noch mehr Nachfrage sorgte in den 1960er-Jahren eine modische Provokation: der Minirock. Ein knappes Nichts, bei dem die Strumpfhose ohne Bänder und Riemen recht kam.

In dieser Zeit kehrte Schlack in seine alte Heimat zurück und ist Honorarprofessor an der Technischen Hochschule in Stuttgart. Er stirbt 1987 im nahe gelegenen Leinfelden-Echterdingen, wo er sich nach seiner Emeritierung niederließ. Dort ist der Erfinder des deutschen Nylons auch beerdigt.

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