Kibbuz: Wie sich der Traum vom Leben im Kollektiv gewandelt hat

2022-09-24 13:36:06 By : Ms. Loy Liu

Yael Kerem trägt die Haare kurz, ein schwarzes T-Shirt, graue Wanderhose und Trekkingsandalen, dazu ein blauer Sonnenhut mit Nackenschutz. Yael Kerem ist Anfang 60 und arbeitet mittlerweile als Reiseführerin des in den bewaldeten Hügeln von Jerusalem gelegenen Kibbuz Tzuba. „Wir sind Sozialisten“, sagt die gebürtige Südafrikanerin, die Ende der Siebzigerjahre nach Tzuba kam und seitdem Teil der Gemeinschaft ist. Rund 600 Einwohner hat der Kibbuz, gut die Hälfte davon sind Mitglieder. In Tzuba herrscht noch immer Basisdemokratie, wie im Gründungsjahr 1948. Mehr noch: Alle Bewohner – oder Freunde, wie sie sich hier nennen – bekommen das gleiche persönliche Budget. Egal, ob sie in der Kantine arbeiten oder die Verwaltung des Kibbuz leiten. „Man wollte damals eine neue, bessere Gesellschaft aufbauen. Als der Staat gegründet wurde, kamen mit einem mal Millionen von Menschen. Und viele Dinge mussten aus dem Nichts aufgebaut werden. In einer Kooperative konnten sich die Menschen helfen, sie waren füreinander da. Dahinter verbirgt sich das Prinzip eines Kibbuz: Jeder gibt so viel er kann, und bekommt, was er braucht.“

Yael Kerem und ihr Mann verfügen im Monat über rund 2200 Euro. Familien bekommen je nach Zahl der Kinder entsprechend mehr. Davon kauft man Duschbad, Zahnpasta, Putzmittel, Kleidung, Möbel, Elektrogeräte wie Fernseher und Computer. Auch der Urlaub wird vom persönlichen Budget bezahlt. Alles andere wird aus dem großen Topf finanziert, in den jedes Mitglied sein gesamtes Einkommen einzahlt. Dazu gehören neben den Steuern, der medizinischen Versorgung und der Rente im Alter auch die Erziehung und Ausbildung der Kinder, Hobbys sowie das Kultur- und Veranstaltungsprogramm vor Ort. Sämtliche Mitglieder wohnen kostenlos in ihren Häusern, die im Gegenzug aber Eigentum des Kibbuz bleiben. Sprich, sie können nicht an die nächste Generation vererbt werden. Selbst ein Auto besitzt niemand in Tzuba, stattdessen gibt es einen Fuhrpark mit etwa 100 Pkws. „Wir buchen den Wagen per App und zahlen pro Kilometer“, erklärt die Mutter dreier erwachsener Kinder.

Bis zum Frühjahr 2020 haben alle Bewohner täglich gemeinsam im Speisesaal gegessen. „Doch die Corona-Pandemie hat unsere Tradition zerstört, wir haben wohl oder übel kochen gelernt“, sagt Yael und lacht. Inzwischen wird wieder an drei Abenden pro Woche gegen ein kleines Entgelt ein großes Buffet mit Salaten, Hauptgerichten und Nachtisch angeboten. Und hinterher trifft man sich draußen im Garten zum Plausch.

In Tzuba wird sogar die Wäscherei noch gemeinsam betrieben. Mehrere große Industriewaschmaschinen und Trockner stehen dicht an dicht in einem Raum. Die Luft ist stickig, hier wird die Wäsche vom Hotel, aber auch die der Kibbuz-Bewohner gewaschen, getrocknet und gebügelt. In den Anfangszeiten gab es Einheitslook für alle, heutzutage besitzt jeder seine eigene Kleidung, die mit Nummern markiert ist. Volontär Adam aus Schweden, der vor Ort einen Hebräisch-Kurs macht und in der Wäscherei jobbt, bezeichnet das Konzept als „sehr effizient“. Yael sieht das genauso: „Da bleibt am Abend genug Zeit für Freunde und für Diskussionen – und hier wird viel diskutiert.“

Die Lebensqualität in Tzuba ist hoch. Die Geschäfte laufen gut. So lebt der Kibbuz zu mehr als der Hälfte von den Erlösen einer eigenen Fabrik, in der kugelsichere Windschutzscheiben für den internationalen Markt produziert werden. Die Hotelanlage mit Swimmingpool und ein Freizeitpark sind weitere wichtige Einnahmequellen. Die Landwirtschaft, zu der auch ein Weingut gehört, spielt im Gegensatz zu früher nur noch eine kleine Rolle.

In Israel gibt es mehr als 250 Kibbuzim. Lediglich 35 davon verfügen heute noch über die ursprüngliche, sozialistisch inspirierte Struktur. Viele sind so alt wie Israel, manche älter. Im kargen Hinterland des Sees Genezareth gründeten am 10. Oktober 1910 zehn junge Männer und zwei junge Frauen aus Weißrussland Degania. Wie viele andere europäische Juden nach ihnen, flohen sie vor den zunehmenden Pogromen in ihrer Heimat nach Palästina, um dort Theodor Herzls zionistischen Traum von einem eigenen Judenstaat zu verwirklichen. Nach dem Vorbild Deganias entstand auf Wüstensand oder Sumpfland ein Kibbuz nach dem anderen, mehr als die Hälfte davon noch vor der Staatsgründung 1948. Die ersten Siedler lebten in Zelten oder primitiven Holzhütten. Bis heute erinnert in Degania Alef (so der aktuelle Name) ein Museum mit historischen Fotografien an die Pioniere.

Auch im jungen israelischen Staat spielten die Kibbuzim eine wichtige Rolle: Sie definierten und sicherten vielerorts die Grenzen des von seinen arabischen Nachbarn bedrohten Staates. Zeugen dieser bewegten Vergangenheit sind rostende Kibbuz-Wachtürme und die vielen Bunker. Rentner Moshe Shpitzer aus Ginosar, am sonnigen Nordufer des See Genezareth gelegen, kann sich noch gut an die Angriffe der Syrer erinnern. „Ich habe die halbe Kindheit im Bunker verbracht“, sagt er. Bis zum Sechstagekrieg war die Gegend dort ein gefährliches Gebiet.

Kibbuz. Das hebräische Wort bedeutet Versammlung, aber es meint viel mehr. Zu Beginn waren alle kollektivistisch organisiert. Persönliches Eigentum gab es nicht, nicht einmal ein Teekessel in den eigenen vier Wänden war üblich. Die meisten Kibbuzim lösten auch die Kleinfamilie auf. Paare wohnten oft gemeinsam mit anderen Mitgliedern im selben Haus, während der Nachwuchs in zentral verwalteten Kinderhäusern von Erziehern betreut wurde – auch nachts, so wie Moshe Shpitzer. „In der Regel verbrachten wir nur drei bis vier Stunden gegen Abend mit unseren Eltern, das waren die sogenannten Familienstunden.“ Vor allem die Kleinen haben unter der Trennung gelitten und viel geweint, erinnert er sich.

Die Kommune, das Zusammenleben, das Teilen begeisterte auch viele junge Menschen in Europa. In den Sechzigern und Siebzigern, zu Zeiten von Woodstock und Flower Power, zogen sie in Scharen als freiwillige Helfer in die Kibbuzim nach Israel. Sie sehnten sich nach einem Kommunismus, der nicht vom Staat aufgezwungen war.

Doch eine Wirtschaftskrise in den 1980er-Jahren zwang die meisten Kibbuzim, ihre sozialistische Organisation aufzugeben. Viele litten unter Geldnot und waren zum Teil hoch verschuldet. Dazu kam der Regierungswechsel 1977. Während die zuvor herrschende linke Regierung die Kibbuzim stets subventionierte, ließ die konservative Likud-Regierung unter Menachem Begin die Kibbuzim in der Wirtschaftskrise im Stich. Die meisten Gemeinschaften sattelten deshalb von der Landwirtschaft auf industrielle Produktion um oder privatisierten bereits bestehende Fabriken, um die drohende Pleite abzuwenden. Ein weiteres Standbein wurde der Tourismus mit eigenen Hotels oder Apartmentanlagen. Im Zuge dessen gab die Mehrzahl der Dorfgemeinschaften die Idee des gemeinsamen Eigentums auf. Heute müssen die Kibbuzniks fast überall bezahlen – allerdings relativ wenig. Auch die zentral verwalteten Kinderhäuser wurden damals aufgelöst. Kitas und Schulen gibt es aber nach wie vor in den Kibbuzim.

Daniela Cohen aus Ein Gedi am Toten Meer bedauert es, dass die alten Zeiten vorbei sind. „Das ist nicht das, was ich gesucht habe“, sagt die gebürtige Kanadierin. Sie kam in den Sechzigern als junge Frau nach Ein Gedi. Tatsächlich ähnelt der Kibbuz mit seinen schmucken Bungalows inmitten eines botanischen Gartens heute eher einem normalen Dorf als einer kollektivistischen Siedlung. Auch Moschele Buch aus Degania Alef steht den Veränderungen kritisch gegenüber: „Um heute ein Kibbuznik zu sein, musst du reich sein und kein Sozialist.“ Denn potenzielle neue Mitglieder müssen in den meisten – also privatwirtschaftlich organisierten – Kibbuzim inzwischen zwei Grundvoraussetzungen erfüllen: jüdisch sein und für sich sorgen können. Ihr Einkommen gehört ihnen, nicht dem Kibbuz. Wie die Wohnung oder das Haus, das sie selbst finanzieren müssen, um Teil der Gemeinschaft werden zu können. Hinzu kommen monatliche Mitgliedsbeiträge, ab 1000 Schekel (rund 300 Euro) aufwärts.

Während 1948 etwa jeder zehnte Israeli in einem Kibbuz lebte, sind es heute nicht einmal mehr zwei Prozent. Mittlerweile zieht es jedoch wieder vermehrt junge Israelis mit ihren Kindern in die solidarisch organisierten Dörfer, die mit ihren einstöckigen Häusern und den vielen Rasenflächen an Feriensiedlungen in Spanien erinnern. Der Grund: Das Leben in der Mehrheit dieser Dörfer gleicht dem in einer behüteten Vorortsiedlung mit netten Nachbarn, guten Schulen, wenig Kriminalität, sozialer Absicherung. Und im Vergleich zum Leben in den Städten ist das Maß an Solidarität im Kibbuz nach wie vor hoch. Einziges Problem: Es gibt nicht genügend freie Häuser. Einige Kibbuzim haben deshalb beschlossen zu erweitern.

Yael Kerem kann sich überhaupt nicht vorstellen, außerhalb des Kibbuz zu leben. „Tzuba ist mein Zuhause, ich habe hier geheiratet und drei Kinder zur Welt gebracht.“ 1948 standen hier nur Zelte. Heute hat es die Gemeinschaft trotz sozialistischer Struktur zu Wohlstand gebracht. Dieser Traum vom Leben im Kollektiv – das ist es, was die 62-Jährige hierher zog.