Schweiz: Almauftrieb zum Seealpsee: So ist es, dabei zu sein | SÜDKURIER

2022-06-18 20:26:46 By : Mr. Thomas chen

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Eben hat mich der Urinstrahl aus Relis Hintern knapp verfehlt. Jetzt rutschen Enzian die Hinterbeine auf dem nassen Asphalt weg. Und an der Spitze der Karawane wird nun auch Olli eingefangen – er ist zuvor auf eine saftige Weide ausgebüxt.

Es ist Samstag, 5 Uhr morgens, und in Appenzell-Innerrhoden sind die Kühe los. Seit Stunden nieselt es und graue Regenwolken hängen über den Hügeln der Region. Langsam weicht die Dunkelheit dem matten Morgenlicht und ich erkenne grüne Wiesen am Straßenrand.

Enzian, Reli und Olli sind drei von rund 40 Kühen, zwischen denen ich seit rund einer Stunde über die Straßen des Kantons wandere. Vorneweg laufen zudem zehn Ziegen. Die Strecke: 14 Kilometer lang, 230 Meter bergab und später 400 Meter hinauf. Das Ziel: Der Seealpsee im Alpstein.

Ich bin aber nicht alleine unter Tieren. Ich begleite die Landwirte Hans und Daniela Gmünder-Gollbach sowie ihre sieben Verwandten und Helfer beim diesjährigen Almauftrieb.

Jedes Jahr um diese Zeit führen sie ihr Vieh vom Hof in Schlatt-Haslen hoch auf die Wiesen am Seealpsee, dort betreiben sie die Seealpkäserei. Den Weg laufen sie in traditionellen Appenzeller Trachten. Die Kühe tragen Glocken um ihre Hälse. Bis etwa Anfang Oktober bleiben Kühe und Ziegen auf der Alm, anschließend werden sie beim Almabtrieb wieder ins Tal geführt.

Um den Almauftrieb der Familie Gmünder-Gollbach mitzuerleben, bin ich um 3 Uhr aufgestanden. Ich könnte gerade in meinem Bett liegen anstatt hier durch den Regen zu stiefeln.

Warum ich mir das also antue? Ich will nicht nur wie ein Tourist am Straßenrand stehen und Fotos schießen. Ich will die Menschen in den Trachten kennenlernen, die diese jahrhundertealte Tradition pflegen. Mich interessiert, wie sie diesen Tag verbringen und feiern. Und ich möchte miterleben, wie es ist, im Morgengrauen eine Horde Vierbeiner auf den Berg zu treiben. Zu diesem Erlebnis hat auch das gemeinsame Frühstück um 3.30 Uhr gehört.

In Stickhemd, roter Weste und gelben Kniebundhosen haben die verschlafenen Familienmitglieder ihren Kaffee mit frischer Hofmilch geschlürft. Dann haben sie im Chor gejodelt und anschließend im Appenzeller Dialekt den Auftrieb besprochen. Ich habe aber kein Wort verstanden.

Immerhin verstehe ich die Frau des Hauses, Daniela Gmünder-Gollbach. Sie spricht auch Hochdeutsch, denn sie ist in Binningen im Hegau aufgewachsen ist. Unter ihrem nassen Regenponcho trägt sie beim Almauftrieb eine blaue Werktagstracht und ein weißes Rüschenhemd. Ihre Haar ist hochgesteckt, um ihren Hals hängt eine Bernsteinkette.

Bevor sie auf die Frage antworten kann, was sie vom Hegau ins Appenzellerland verschlagen hat, tönt ein lautes „Muuh!“ hinter uns. Dann sagt sie: „Ich war vor 15 Jahren zum ersten Mal auf der Alm. Damals war ich mit meiner Ausbildung zur Sozialpädagogin unzufrieden und hier im Sommer zum Arbeiten.“ Es habe ihr so gut gefallen, dass sie nach dem Sommer und auch nach dem nächsten Sommer wiedergekommen sei. „Und danach bin ich geblieben“, erzählt sie und lächelt.

Der Grund: Sie hatte sich in den Mann des Hauses verliebt, Hans Gmünder-Gollbach. Es folgten eine Hochzeit, zwei Kinder und eine Ausbildung zur Käserin.

Seither hat ihr Leben eine Kehrtwende gemacht. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass mein Leben sich so entwickelt. Man ist hängen geblieben.“ Zur Alm gehen – das wolle sie nicht missen, sagt sie. „Aber als Landwirt ist es auch ein anstrengendes Leben.“

Sie sei gerade erst 40 Jahre alt geworden und spüre bereits, wie die Arbeit an ihrem Körper nage. „Für Landwirte gibt es nämlich keinen Feierabend. Man ist immer auf Abruf, wir sind sieben Tage die Woche im Einsatz.“ Im Sommer gehe sie nach dem Käsen mit ihrem Mann ein Mal wandern, sagt sie. „Im Herbst gehen wir dann etwa fünf Tage in den Urlaub.“

Die Landstraße führt nun hinab ins Dorf Appenzell. Es hat etwas Meditatives, über lange Zeit hinweg die Kuhglocken zu hören und dabei zu wandern. „Das ist wie eine Klangmeditation beim Yoga“, ruft Daniela Gmünder-Gollbach und lacht. Die Sennen treiben jetzt das Vieh durch die Fußgängerzone. Vorbei an Bäckereien und Cafés, wo Mitarbeiter den Sennen Wasser und Wein anbieten. Alle greifen dankbar zu.

Vorbei an Häusern mit verzierten Fassaden und Giebeldächern.

Vorbei an Dutzenden Touristen mit gezückten Smartphones.

Der Regen wird nun stärker. Hinter dem Tross rollen mittlerweile mehrere Autos, die den Almauftrieb auf der Straße überholen wollen. Hans Gmünder-Gollbach, der Herr des Hauses, läuft ganz hinten mit einem Sennenhund und gestikuliert wild zu dem Fahrer eines Geländewagens. „Du sollst auf die Nebenstraßen ausweichen“, raunt er, „du verschreckst sonst das Vieh!“

Hans Gmünder-Gollbach ist 54 Jahre alt, hat einen ergrauten Rauschebart und trägt einen dunkelgrünen Filzhut. Im Gegensatz zu den anderen Sennen im Tross hat er im Laufe der Wanderung auf Regenponchos oder Schirme verzichtet. Dementsprechend sind seine braune Stoffhose und seine braune Weste durchnässt.

Der Almhirt hat sechs Kinder, erzählt er. Vier aus voriger Ehe und zwei mit seiner Frau Daniela. Auf die Kennenlerngeschichte mit seiner Frau angesprochen, sagt er: „Anfangs konnten wir uns nicht so gut verstehen, sie konnte ja unsere Sprache nicht.“ Ein seltenes Grinsen zeigt sich in seinem Mundwinkel. „Sie hat den Appenzeller Dialekt aber schnell gelernt.“

Während er das erzählt, öffnen immer wieder verschlafene Menschen ihre Schlafzimmerfenster und rufen „Ich wünsch‘ dir Glück!“ in den Regen. Aber Glück? Wofür?

„Das Glück für einen guten Almsommer hängt vom lieben Gott ab“, erklärt der Landwirt. Er gehe zwar nicht in die Kirche, glaube an eine höhere Macht. „Ich bete immer beim Melken. Als Landwirt hast du so nämlich wenig Zeit, um dich zurückzuziehen oder allein zu sein.“

Der 54-Jährige macht sich bereits Gedanken um seinen Ruhestand und die Frage: Wer übernimmt dann den Hof? Mehr als 30 Jahre in der Landwirtschaft hinterlassen Spuren an seinem Körper. „Ich hoffe fest, dass jemand das weitermacht, was man aufgebaut hat.“ Seine Kinder könne er nicht zwingen, den Hof zu übernehmen. „Jeder Mensch soll seinen Weg gehen“, sagt er, „die Zeit wird es zeigen.“

Hinter Appenzell und dem Bahnhof Wasserauen endet schließlich der einfache Abschnitt der Route. Ab hier geht es für drei Kilometer steil bergauf. Nach bereits elf Kilometern durch den Regen spüre ich diesen Anstieg in meinen Oberschenkeln. Doch vor allem die beiden Söhne Martin und Hansueli Gmünder kämpfen gehörig mit dem Anstieg. Sie tragen nämlich jeweils zwei Kuhglocken, die an einem Stab um ihre Schultern gebunden sind.

Hinter den beiden kraxeln die Ziegen und Kühe den Berg hoch und wirbeln dabei Staub auf.

Mittlerweile warten zahlreiche Hobbyfotografen und Schaulustige am Zielort.

Am Ufer des Seealpsees hoffen sie auf einen Schnappschuss.

Bei der Käserei angekommen laufen die Kühe und die Ziegen freudig auf die Wiese.

Die Sennen jodeln zum Abschluss im Chor und läuten die Kuhglocken. Anschließend geht es in die warme Stube. Dort stehen Brot, Wurst, Käse auf dem Tisch. Die Kinder trinken warmes Rivella.

Es ist erst 10.30 Uhr, doch nach der Brotzeit folgt der Weißwein, dann der Kräuterschnaps und dann wieder der Weißwein. Mittlerweile haben sich die Wolken verzogen und die Sonne kommt heraus. Die Chancen stehen gut, dass der Säntis sich heute nochmal im Wasser des Seealpsees spiegelt.

Daniela und Hans Gmünder-Gollbach werden ab jetzt bis Oktober mit ihren zwei gemeinsamen Kindern sowie einer Angestellten für die Käseproduktion auf der Alm bleiben. Zum Abschluss frage ich Daniela Gmünder-Gollbach, was ihr an ihrem alten Leben zwischen Hegau und Bodensee fehle. „Ich vermisse den Bodensee natürlich sehr“, sagt sie.

Auch ihre Familie im Hegau würde sie gern öfter sehen. „Obwohl es nicht so weit ist, ist man hier doch sehr eingebunden“, sagt sie. Manchmal wäre sie gern öfter dort – für Geburtstage oder andere Anlässe. „Aber ich habe mich jetzt entschieden. Ich habe hier zumindest ein kleines Zückerchen, nämlich meine Familie und den Seealpsee dort oben.“

Für mich hat es sich gelohnt, bei diesem Almauftrieb dabei zu sein. Es war zwar ein anstrengendes Abenteuer, das Muskelkater und Müdigkeit nach sich zog. Doch ich konnte für einen Tag in die Welt der Appenzeller Familie Gmünder-Gollbach eintauchen. Ich konnte erfahren, wie sie diese Tradition feiern und mit welchem Stolz sie ihre Kultur pflegen.

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